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Stalin und Jeschow - immer noch nicht überwunden? (Foto: Archiv) |
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Montag, 15.12.2008
Wird Memorial-Archiv nach Protesten nun zurückgegeben?Felix Herrmann, Berlin. Staatsanwaltschaftliche Beschlagnahmen im Archiv des Wissenschaftlichen Informationszentrums der Menschrechtsorganisation Memorial in St. Petersburg haben im Ausland Proteste ausgelöst.
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Maskierte Beamte waren am 4. Dezember in die Büroräume des Zentrums (abgekürzt NIC) eingedrungen, hatten einen Großteil der Computerfestplatten mitgenommen und die Arbeit des Zentrums so zum Erliegen gebracht.
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Als Grund gaben sie einen Zeitungsartikel extremistischen Inhalts an, der 2007 in der inzwischen eingestellten Zeitung Novyj Peterburg erschienen sei.
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Die Leiterin des NIC Irina Flige hatte schon während der Durchsuchung erklärt, dass zwischen ihrer Organisation und dem Artikel keinerlei Verbindung bestünde. In einem rund zweistündigen Verhör am 12. Dezember bekräftigte sie diese Aussage noch einmal gegenüber dem Untersuchungsbeamten der Staatsanwaltschaft Michail Kalganow.
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Wird das beschlagnahmte Archivmaterial heute zurückgegeben? Ganz oder teilweise?
Dieser kündigte in dem Gespräch unerwartet die Herausgabe von Festplatten am heutigen Montag an. Allerdings bleib unklar, ob damit sämtliche oder nur einzelne Datenträger gemeint sind.
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Die Ankündigung der Staatsanwaltschaft ist möglicherweise eine Reaktion auf die zahlreichen ausländischen Proteste. Der Durchsuchungsbefehl beruht auf einem konstruierten Vorwand erklärten die Abgeordneten Marieluise Beck und Manuel Sarrazin nur einen Tag nach der Durchsuchung auf den Webseiten der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und beklagten eine systematische Politik der Einschüchterung gegenüber regierungskritischen Gruppen in Russland.
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Auch die Präsidentschaft der Europäischen Union äußerte in einer Deklaration zu den Vorkommnissen ihre Besorgnis und sprach von einem negativen Signal, das nur wenige Tage vor dem 60. Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von Russland ausgesendet werde. Eine Vielzahl ausländischer Partnerorganisationen von Memorial wandte sich mit Protestschreiben an russische Vertretungen und die Öffentlichkeit.
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Betroffen durch die Beschlagnahme ist die wissenschaftliche Forschung
Ebenfalls betroffen von der Aktion der Strafverfolger ist die wissenschaftliche Forschung. Das Informationszentrum genießt wegen seiner Arbeiten und Sammlungen zu den Repressionen während der Stalin-Ära und zu Dissidenten in der UdSSR Anerkennung weit über die Grenzen Russland hinaus.
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Ein Großteil des wertvollen Materials befindet sich auf den beschlagnahmten Datenträgern und damit nun in den Händen der Staatsanwaltschaft: Biographien von mehr als 50.000 Opfern stalinistischer Repression, über 10.000 Fotos und Texte des Virtuellen Gulag Museums, die komplette Datenbank des Oral History-Archivs und eine umfangreiche Sammlung von Fotografien und Dokumenten, die aus privaten Sammlungen stammen. Ob und wann all dies wieder für die Forschung zur Verfügung steht ist ungewiss.
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Akademiker von Weltrang protestieren in Brief an Medwedew
Akademiker von Weltrang sorgen sich daher in einem offenen Brief, adressiert an Präsident Dmitri Medwedew, um die Ergebnisse von 20 Jahren akribischer Forschung und fürchten den Verlust der einzigartigen Sammlung. Initiiert hat das Schreiben, das seit dem 8. Dezember im Internet veröffentlicht ist, der britische Historiker Orlando Figes.
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Der Professor an der University of London gilt als exzellenter Kenner der russischen Geschichte und hat mit Die Flüsterer jüngst eine Studie zu den Auswirkungen von Angst und Repressionen auf das Privat- und Familienleben in der stalinistischen Sowjetunion vorgelegt. Basierend auf Material, das nun beschlagnahmt worden ist.
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Auch Jörg Baberowski, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, Erstunterzeichner des Briefes von Figes und international renommierter Stalinismus-Experte, betont gegenüber Russland-Aktuell die außerordentliche Bedeutung der beschlagnahmten Daten: Es handelt sich dabei auch um Ego-Dokumente, die den Stalinismus beschreiben. Diese Stimmen der Opfer sind das, was uns in der Forschung bislang gefehlt hat.
Bei der eigenen Forschungstätigkeit vor Ort sei er bislang nicht eingeschränkt worden. Doch beobachtet er seit etwa zwei Jahren, dass sich russische Kollegen vorsichtiger verhalten und auf unverfängliche Themengebiete ausweichen.
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Zusammenarbeit von russischen und westlichen Stalinismus-Forschern nicht gern gesehen
Der russische Staat sieht eine Zusammenarbeit von russischen und westlichen Historikern in Bezug auf den Stalinismus nicht gern, sagt Baberowski. Das führe zu einem vorauseilendem Gehorsam nicht nur der russischen Geschichtsforscher, sondern auch der Archivare, die bestimmte Dokumente aus eigener Initiative unter Verschluss halten.
Die Vorkommnisse in Petersburg machen nun deutlich klar, welche Stimmen der russische Staat bei der Schreibung der vaterländischen Geschichte künftig nicht mehr hören will.
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Es bleibt abzuwarten, ob die internationalen Proteste die Aufklärung der undurchsichtigen Vorwürfe gegen Memorial beschleunigen und die Datensammlungen wieder den rechtmäßigen Besitzern zuführen können.
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