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Einmal in Kontakt mit der Luft, entfachte der Phosphor ein wahres Höllenfeuer (foto: vecherniy.kharkov.ua) |
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Mittwoch, 18.07.2007
Phosphor-Brand: Umweltkatastrophe in der UkraineLemberg. Der Brand eines mit Phosphor beladenen Güterzugs hat eine Umweltkatastrophe in der Westukraine verursacht. 11.000 Menschen leben in dem Gebiet, das bei dem Zugunglück am Montag verseucht wurde.
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Die Katastrophe traf das Gebiet etwa 50 Kilometer östlich von Lemberg (ukrainisch: Lviv/ russisch: Lwow) ohne jegliche Vorwarnung: Ein mit 57 km/h Geschwindigkeit fahrender Güterzug entgleiste auf einer gut ausgebauten Strecke bei der Ortschaft Oshidiw, wo Personenzüge normalerweise mit 120 km/h und Güterzüge mit 90 km/h durchrollen.
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Neben zwei Waggons mit Kohle kippten dabei auch 15 Tankwagen aus den Gleisen. Sie waren mit gelbem Phosphor beladen, einer sowohl hochgiftigen wie auch bei Wärme und Kontakt mit Luft selbstentzündlichen Substanz. Deshalb muss Phosphor unter Wasser aufbewahrt und transportiert werden. Schon 50 bis 150 Milligramm reichen aus, um einen Menschen tödlich zu vergiften.
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Die Lieferung des Düngemittelgrundstoffes kam aus Kasachstan und sollte im Transit nach Polen bebracht werden.
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Sechs Zisternen platzen auf, der Phosphor ging in Flammen auf, er wurde durch das entstehende Höllenfeuer aufgewirbelt. Über dem Unglücksort bildete sich eine gelblich-weiße Giftwolke, die sich langsam ausbreitete. Die Löscharbeiten gestalteten sich schwierig denn die Temperaturen am Brandherd erreichten 1500 Grad. Die Feuerwehr wurde von Irak-erfahrenen Armee-Einheiten zur ABC-Abwehr unterstützt, die mit dem notwendigen Schutzequipment anrückten.
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Beinahe ein zweites Tschernobyl
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Damit war das Katastrophenszenario perfekt: Der ukrainische Vizepremier Alexander Kusmuk sagte unter dem Eindruck des Geschehens an der Unfallstelle, in der Ukraine hätte im Prinzip ein zweites Tschernobyl geschehen können. Dieses Schlagwort war nur zu gut geeignet, die zu diesem Zeitpunkt schon umlaufenden wilden Gerüchte über eine Umweltkatastrophe gewaltigen Ausmaßes anzuheizen.
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Während sich die einen Menschen eilig davonmachten, verbarrikadierten sich andere in ihren Wohnungen und begannen, angeblich hilfreiche Entgiftungsmittel wie Leinsamensud zu sich zu nehmen, schreibt heute die Zeitung Kommersant.
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700 Menschen evakuiert, aber 11.000 in Gefahr
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Nach offiziellen Angaben wurden unmittelbar nach dem Unglück nur 20 Personen mit Vergiftungserscheinungen medizinisch behandelt, sieben davon ambulant. Ein Unglücksopfer liegt auf der Intensivstation. Auch 14 Feuerwehrmänner erlitten Vergiftungen oder Verbrennungen. Aus einem unmittelbar betroffenen Areal wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde 729 Menschen evakuiert zwei Drittel nutzten dafür ihre eigenen Autos.
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Der Katastrophenschutz sprach gestern davon, dass sich die Wolke in der Nähe des Städtchens Busk über eine Fläche von 86 Quadratkilometer ausgeweitet habe, in der sich 14 Siedlungen befinden. Die dort lebenden 11.000 Menschen hatte man aufgefordert, Türen und Fenster zu schließen und mit feuchten Tüchern abzudichten. Tiere dürfen nicht mehr ins Freie, Wasser aus Brunnen und Milch soll nicht mehr getrunken werden.
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Langzeit-Schäden noch nicht zu überblicken
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Nach allem, was man über die Giftigkeit von Phosphor weiß, dürfte es in diesem Fall aber nicht bei vorübergehenden Sicherheitsmaßnahmen bleiben: Die Produkte von Gartenbau und Landwirtschaft in dem betroffenen Gebiet sind nicht mehr verwertbar. Dies ist unausweichlich, denn alle gefährlichen Stoffe setzen sich früher oder später im Boden ab, so ein Militärarzt in Lemberg.
Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko ordnete an, dass innerhalb von drei Tagen ein Plan zur Liquidierung der Folgen der Katastrophe auszuarbeiten sei. Außerdem soll die Versorgung der Bewohner des betroffenen Gebietes mit medizinischer Hilfe, Essen und Trinkwasser gesichert werden. Klären müssen die Behörden auch noch, wie der ausgetretene Phosphor neutralisiert und beseitigt werden kann. Zur Unterstützung reisten heute Experten aus Kasachstan an.
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Zahl der Erkrankten steigt an
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Die Zahl der Leidtragenden des Zugunglücks scheint gegenwärtig zu wachsen: Am Mittwoch Mittag befanden sich nach Angaben des Katastrophenschutzes des Gebietes Lemberg bereits 69 Menschen aus der betroffenen Region in Krankenhäusern. 19 davon seien Kinder. Schwere Gesundheitsschäden seien beiihne nicht zu diagnostizieren. Ärzte haben zudem bereits 5.000 Menschen untersucht und dabei keine Gesundheitsprobleme wegen des Brandes festgestellt, so das Gesundheitsministerium.
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Einem Bericht der Zeitung Segodnja zufolge könnte die Zahl der medizinisch Betroffenen in die tausende steigen. Phosphor kann sowohl die Atemwege angreifen wie auch zu Verbrennungen auf der Haut führen. Zudem können wie bei Giftgasopfern Lähmungen auftreten.
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Wird das Unglück von den Behörden kleingeredet?
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Der in der Ukraine bekannte Ökologe Wladimir Borejko hat die Behörden aufgefordert, das ganze betroffene Gebiet zu evakuieren. Es sei zudem unklar, wie weit sich die Wolke mit den Giftstoffen noch ausbreitet. Auch müsse damit gerechnet werden, dass das Phosphor ins Grundwasser und Flüsse gerate, weshalb die Folgen des Unglücks momentan noch gar nicht abschätzbar seien.
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Die ukrainischen Behörden sind offenbar bemüht, die Aufregung um das Unglück niedrig zu halten. Verkehrsminister Nikolai Rudkowski sprach heute davon, dass in den nächsten 24 Stunden die Strecke wieder frei gegeben werden könnte. Allerdings wurden noch in der Nacht dort neue Selbstentzündungen von Phosphor registriert und mit Soda und Sand gelöscht.
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Schuldfrage: Eisenbahner, Technik oder Sabotage?
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Die Staatsanwaltschaft in Lemberg versucht die verunsicherte Öffentlichkeit hingegen mehr für die Schuldfrage zu interessieren. Erörtert würden gegenwärtig vier Versionen: Ein Fehler des Zugführers, Regelverstöße des Personals beim Verladen der gefährlichen Fracht, ein Defekt am Gleiskörper oder ein Sabotageakt. Zeugen hatten berichtet, vor dem Entgleisen des ersten Waggons einen Knall gehört zu haben.
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Die Untersuchungen an der Unfallstelle selbst seien heute aber unterbrochen worden, da dort Leben und Gesundheit der Mitarbeiter in Gefahr seien, erklärte Staatsanwalt Anatoli Prischko bezeichnenderweise.
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Minister Rudkowski sprach in Kiew hingegen von dem Verdacht, dass die aus Kasachstan kommenden Tankwaggons nicht den Sicherheitsanforderungen entsprechen würden. Dies würde momentan geprüft.
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Rollen defekte Phosphor-Waggons durch Deutschland?
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Sollte sich dieser Vorwurf bewahrheiten, wären aber auch die Behörden in den EU-Staaten dringend gefordert: Nach Informationen ukrainischer Medien waren die rollenden Brandbomben aus Kasachstan nämlich nicht - wie zunächst gemeldet - für einen Abnehmer in Polen, sondern für die Niederlande bestimmt.
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Das würde bedeuten, dass der Zug im Transit durch ganz Polen und Deutschland hätte rollen sollen. Und dass er dies eventuell auch noch tun wird: Die ukrainische Eisenbahn sprach schon davon, die beim Unglück unversehrt gebliebenen Zisternen alsbald auf ihrem Weg nach Westen weiter schicken zu wollen.
(ld/rufo/St.Petersburg)
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