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Für beide wird ein Nachfolger gesucht - Wulff und Medwedew in Moskau (Foto: TV) |
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Sonntag, 19.02.2012
Zwei Präsidenten gesucht - zwei StellenbeschreibungenVon Thomas Fasbender. Gesucht: zwei Präsidenten. Die gleichzeitige Kür in Russland und Deutschland beleuchtet auch, was beide Länder in ihrem Selbstverständnis und im Verständnis des anderen so gravierend unterscheidet.
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Die beiden Jobs haben kaum Ähnlichkeit; die Unterschiede der Verfassungen sind bekannt. Jedes Amt ist zugeschnitten auf sein Land, dessen Geschichte und Gesellschaft. Christian Wulffs Scheitern gründet darin, dass er sich nicht im Klaren war, was das deutsche Präsidentenamt verlangt.
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In unserem Bewusstsein besetzt der Staat seit den Tagen des Deutschen Idealismus und in den Begriffen des Berliner Philosophen Hegel eine wichtige Stufe auf der langen Leiter hoch zum absoluten Geist. Ungeachtet aller Irrungen und Wirrungen und untrennbar von seinen lutherischen Wurzeln bestimmt dieses Motiv auch heute noch unsere Vorstellungen von Gut und Richtig in der Politik.
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Da konnte Wulffs Kalkül, sympathische Durchschnittlichkeit einzusetzen und ein Präsident der Bürger, ein Bürger als Präsident zu sein, unter keinen Umständen aufgehen. Ein Bürger wie du und ich dazu gehören die kleinen Verfehlungen, die lässliche Vorteilsnahme, die niemanden schädigt, die aufrichtigen Herzens begangen wird und die auch ein Katholik nicht unbedingt beichten muss.
Aber wer als neuer Amtsträger über die Schwelle des weißen Schlosses im Berliner Tiergarten tritt, verlässt (immer noch auf Hegels Spur) die Sphäre des subjektiven Geistes wird zur Verkörperung seines Staats. Das im Vorhinein zu begreifen, dazu hat Wulff die Phantasie gefehlt.
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Hätten ihn die Enthüllungen als niedersächsischen Ministerpräsidenten erwischt, er hätte eine faire Chance gehabt, die Medienkampagne im Amt zu überstehen. Ein Regierungschef auf Länderebene dient dem Staat, ist nicht mit ihm identisch. Dasselbe Volk, dessen Meinung sich nur in Umfragen niederschlägt, hätte dem Ministerpräsidenten möglicherweise Schutz und Verständnis entgegengebracht. Ein Bundespräsident une tout autre histoire.
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In Russland wird in Kürze ebenfalls der Präsident gewählt. Der aussichtsreichste Kandidat bringt zwei Amtsperioden Erfahrung mit. Niemand wirft ihm vor, günstige Kredite für den Bau eines Einfamilienhäuschens in Anspruch genommen zu haben. Das wäre auch eine allzu schäbige Liga für Wladimir Putin; wo der spielt, haben schon die Gerüchte zehn Stellen vor dem Komma. Seine Freunde haben nicht nur Bürgschaften erhalten, seine Freunde durften Milliardäre werden.
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Und dennoch wird Putin auch ohne Manipulation die Wahl gewinnen (die paar Prozent oben drauf werden ihm nicht schaden). Es gab in Russland keinen Hegel, es gab keinen Luther, und es gibt kein Staatsideal. Der Staat, das ist bestenfalls eine Projektion, der Doppeladler, unter dem der Einzelne sich als stark und mächtig empfinden kann. Im Alltag ist er die dumpf missachtete Obrigkeit.
Die achselzuckende Gleichgültigkeit, mit der das Volk in der Masse auf Misswirtschaft, Bereicherung und Durchstecherei reagiert, spiegelt nicht allein Resignation und Enttäuschung. Sie ist immer auch das versteckte Eingeständnis: Hätte ich es anders gemacht?
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Putin bleibt der Held all jener, die ein neues, starkes Russland wünschen, ohne sich der Vergangenheit mit jenem perversen Stolz zu stellen, der uns Deutsche dazu veranlasst, auf der Singularität unserer Verbrechen zu beharren. Es gibt eben keinen russischen Idealismus, nicht im Guten und nicht im Bösen. Russen denken pragmatisch, orientieren sich am Möglichen. Aber sie sind zäh; wo der Idealist ausblutet, bewahren sie ihre Reserven.
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Putin wird Präsident werden, weil der überwiegende Teil der russischen Wähler pragmatisch entscheidet. Die Opposition, das sind nicht die vom Westen gehätschelten Liberalen, die paar Prozent, mit denen die ausländischen Medienvertreter sich auf Englisch unterhalten können.
Die Opposition ist rot und braun, und wenn Putin morgen tot vom Stuhl fällt, kommen die Nationalisten und Sozialisten ans Ruder und nicht die fremdsprachenkundigen Vertreter des urbanen Mittelstands.
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Mit dem unaufhörlichen Putin-Bashing stellt der Westen sich am Ende nur selbst ein Bein. Aber vielleicht braucht er ja wieder eine Lektion, nach drei Generationen. Eine, wie es so schön heißt, die sich gewaschen hat.
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Russische Übersetzungen >>>
Thomas Fasbender lebt seit 1992 in Moskau, ist Geschäftsführer der CHECKPOINT RUSSIA und mit regelmässigen Kommentaren auf Russland-Aktuell präsent.
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Vitaly 24.02.2012 - 10:45
Putin - Kandidat der blinden Russen
Die Russen denken pragmatisch? Welche Russen und wieviele es sind?
Hätten die pragmatisch gedacht, müssten sie den Kandidaten der Oligarchen feuern, statt ihn wieder zu wählen. Nach den letzten Meetings zur Unterstützung Putins, die im Volksmund Putings genannt werden, ist klar, dass die meinsten unbedarften Wähler wieder \"mit dem Herzen\", wie schon zu Jelyins Zeiten, abstimmen werden. Ihr Herz liegt aber eher im Magen, weil sie ihre beschedenen Lebensverhältnisse nicht aufs Spiel setzen wollen. Wenn es ein Pragmatismus ist, dann eben ein abdominaler also ein Bauch-Pragamtismus, der mit echten Entwicklungsbedürfnissen des Landes nichts gemein hat. Die patriotische Demagogie des Präsidentschaftaanwärters ist nur ein Schleier für seine Machtgelüste. Ich wette, er schaft nicht die 6 Jahre Bewährung, die er bekommt. Seine Wiederwahl ist nur eine aufgeschobene Revolution. Der Westen täte gut, einen richtigen Modernisierer Russlands zu suchen. Es scheint aber, dass dessen Zeit leider noch nicht gekommen ist. Und das ist tragisch.
Paulsen-Consult 19.02.2012 - 17:56
War kurz davor, ein schöner Artikel zu werden...
Ein interessant beginnender Artikel, Wulff und Putin zu vergleichen. Auch gut, die deutsche und die russische Staatsauffassung gegeneinander zu stellen. Der Höhepunkt des Artikels ist für mich die Annahme, dass wir Deutsche unter dem perversen Stolz auf die Singularität unseres Verbrechens (gemeint ist wohl der Nationalsozialismus?) beharren. Ein Satz, über den man wirklich nachdenken könnte, den ich bisher auch nie irgendwo anders gehört habe.
Am Ende wird es dann wieder ziemlich zynisch und man hat den Eindruck, dass der Autor eine Art von Synapsenkurzschluss hat, indem er alles mit allem konnektiert und durch diese typisch russische Art der bösen Andeutung mal eben alles an Intellekt entwertet, was er zuvor zu zeigen schien.
Schade.
xy 19.02.2012 - 17:14
"Mit dem unaufhörlichen Putin-Bashing...
... stellt der Westen sich am Ende nur selbst ein Bein. Aber vielleicht braucht er ja wieder eine Lektion, nach drei Generationen. Eine, wie es so schön heißt, die sich gewaschen hat. \"
man hätte gerne mal gewusst, was damit gemeint ist. Ohne Wahlbetrug wären jetzt die Kommunisten die stärkste Partei in der Duma? Hat Russland dem Westen schon mal eine Lektion erteilt? Das war ja wohl eher anders herum.
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