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Bundesaussenminister Steinmeier in der Blutkirche von Jekaterinburg, die an der Stelle errichtet wurde, an der 1918 die Zarenfamilie ermordet wurde (Foto: AA/Archiv)
Bundesaussenminister Steinmeier in der Blutkirche von Jekaterinburg, die an der Stelle errichtet wurde, an der 1918 die Zarenfamilie ermordet wurde (Foto: AA/Archiv)
Dienstag, 20.05.2008

Steinmeier-Rede: Modernisierungs- partnerschaft (1)

Moskau/Berlin/Jekaterinburg. Mit seiner Rede in Jekaterinburg umreisst Bundesaussenminister Steinmeier den Rahmen der deutschen Russlandpolitik. Anfang Juni wird Präsident Medwedew in Berlin erwartet - mit einer Antwort.

Russland- Aktuell dokumentiert hier die Rede Steinmeiers vom 13.5.2008 in Jekaterinburg im Ural unkommentiert im Wortlaut - als Dokument zur Zeitgeschichte.

„Für eine deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft“



Redemanuskript. Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Magnifizenz,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, heute an der Ural-Universität sprechen zu können. Besonders freue ich mich auch auf die Diskussion mit Ihnen. Sie sind die Zukunft Russlands. Und fast noch nie hatte eine junge Generation in Russland so viele Chancen, eine gute Zukunft für sich und dieses Land zu gestalten!

Viele ihrer Großväter und Urgroßväter mussten in den Krieg gegen das nationalsozialistische Regime ziehen. Dieser Krieg hat unendliches Leid über die Menschen gebracht, er hat uns alle um Jahrzehnte zurückgeworfen. Die Folgen dieses Krieges haben auch noch das Leben der Generation Ihrer Eltern geprägt, und auch das meiner Generation, die in einem Land mit einer Mauer und mit Stacheldraht mitten durch das geteilte Deutschland aufgewachsen ist. Jetzt haben Sie, haben wir alle das Glück, in einer Zeit zu leben, in der Ihnen und uns nicht nur die Welt offensteht. Wenn wir es gut machen, dann werden wir eine lange Periode des Friedens, der Verständigung und der Zusammenarbeit schaffen! Daran müssen wir gemeinsam arbeiten!

Ich bin zum ersten Mal in Jekaterinburg, und ich bin beeindruckt von der Lebendigkeit dieser Stadt. Jeder spürt: Hier geht die Entwicklung voran. Sie leben hier in einem wirtschaftlichen Kraftzentrum, das sich hinter Moskau und St. Petersburg nicht verstecken muss.

Und viele Deutsche, Wissenschaftler und Unternehmer, haben sich vom Tempo und der Dynamik hier schon anstecken lassen und sind auf Zeit oder auf Dauer hierher gekommen. Übrigens nicht erst seit heute: Unsere Verbindungslinien reichen weit in die Geschichte zurück. Es war Alexander von Humboldt, der sich 1829 im Auftrag von Zar Nikolaus I Richtung Osten aufmachte und nur 40 Kilometer von hier die geographische Grenze zwischen Asien und Europa markierte.

Anrede,

Humboldt steht für die Vermessung der Welt im frühen 19. Jahrhundert. Heute haben wir eine ganz andere Lage: Jeder Winkel der Erde ist inzwischen bekannt, alle Landkarten gezeichnet. Aber die Grenzen auf diesen Landkarten verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Insofern erleben wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Neuvermessung der Welt, auf völlig andere Weise. Mit der weltweiten Arbeitsteilung und der Globalisierung der Finanzmärkte haben sich neue Horizonte aufgetan. Mit ungeheuren Chancen, aber auch neuen Herausforderungen und Risiken.

Der technologische Fortschritt und vor allem das Internet machen es möglich, dass heute an beinahe jedem Ort unbegrenztes Wissen zur Verfügung steht. Jekaterinburg und Berlin sind nur noch einen Mausklick voneinander entfernt. Für Sie als Studenten ist es heute selbstverständlich, den neuesten Fachaufsatz im Internet herunterzuladen, per Email mit ihren Freunden in New York oder Neu Delhi zu chatten oder virtuelle Forschungs- und Lerngemeinschaften zu bilden.

Auch die Wirtschaft arbeitet nach völlig veränderten Rahmenbedingungen. Die Liberalisierung der Weltwirtschaft hat nationale Grenzen gesprengt und unsere Märkte für Produkte und Dienstleistungen zusammenwachsen lassen. Hunderte Millionen Menschen sind so in der Lage, sich zum ersten Mal in der Geschichte einen Wohlstand aus eigener Kraft erarbeiten zu können. Wir unterstützen das nach Kräften!

Und was für die Wirtschaft gilt, trifft auch für die Politik zu: Neue politische Kraftzentren bilden sich heraus. In Asien, am Golf von Arabien, in Lateinamerika, aber auch in Afrika. Das verschiebt die Gewichte in der Welt. In Zukunft werden weitaus mehr Staaten und Regionen als im vergangenen Jahrhundert die Welt beeinflussen und gestalten.

Dieser rasante Wandel macht das 21. Jahrhundert zum ersten, echten globalen Jahrhundert. Eine Epoche, in der das politische Gewicht und die wirtschaftlichen Chancen eines Landes nicht mehr in erster Linie von seiner Landmasse abhängen. Und auch nicht von der Zahl seiner Panzer und Raketen.

Anrede,

nein, die neuen Formeln von Erfolg und Zukunftsfähigkeit sind Wissen und Innovationsfähigkeit, sind Flexibilität, die Fähigkeit und der Wille zu dauernder Veränderung. Nur Länder und Gesellschaften, die sich neue Horizonte erschließen, können ihren Platz in der Welt behaupten oder neu vermessen. Die Zukunft gehört den Ländern und Gesellschaften, die sich kraftvoll modernisieren, die innovativ sind und die den Strukturwandel mutig angehen!

Nach meiner festen Überzeugung sind offene Gesellschaften dazu am besten in der Lage. Wir sind deshalb gut beraten, Offenheit und Pluralität unserer Gesellschaften nicht als Gefahr zu begreifen, sondern als Chance und Notwendigkeit für Frieden und für einen wachsenden Wohlstand. Genauso wie in Deutschland wird auch die Modernisierung in Russland nicht vom Staat alleine zu schultern sein. Das würde ihn überfordern. Gerade deshalb braucht Russland eine lebendige Zivilgesellschaft und ein lebendiges Unternehmertum. Auch eine Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Meinungen frei miteinander ringen, und ein verlässlicher Rechtsstaat werden der Modernisierung ihres Landes nicht schaden, sondern sie fördern. Für diesen Weg möchte ich hier bei Ihnen werben!

Und weil ich weiß, dass der Begriff „Demokratie“ nach den Erfahrungen der 90er Jahre in Russland vielfach auf Skepsis und Ablehnung stößt, möchte ich präzisieren, was ich damit meine. Demokratie – das ist eben nicht Unordnung, Durcheinander und Instabilität. Demokratie ist vielmehr das Zusammenleben auf der Grundlage verbindlicher Regeln, die ausdrücklich für alle gelten. Rechtsstaatlichkeit basiert auf einer Ordnung, in der eben nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern die Stärke des Rechts, dem alle gleichermaßen unterworfen sind! Und als Sozialdemokrat füge ich hinzu: Ich stehe auch für eine Ordnung, in der die Starken in einem Land mehr Lasten tragen und zum Gemeinwohl beitragen als die Schwachen. Das sind die zentralen politischen Prinzipien, für die ich werbe. Weil sie nach meiner Überzeugung das friedliche Zusammenleben und das Wohlergehen aller Menschen auf die bestmögliche Weise fördern!

Und was für die Politik nach Innen gilt, trifft auch für die Außenpolitik zu. Mit einer Politik des Gleichgewichts der Mächte wie im 19. Jahrhundert, und auch mit einer Politik der mißtrauischen Abschottung und Konfrontation wie im Kalten Krieg, werden wir die Probleme unserer Zeit nicht bewältigen.

Wir leben in einer Zeit, in der wir zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit unsere zentralen Probleme nur noch gemeinsam lösen können. Nehmen wir den Klimawandel: Er verändert das Leben der Menschen überall auf der Welt. Der Kampf gegen die Erwärmung der Erde ist genausowenig mit den Mitteln des klassischen Nationalstaats zu gewinnen wie der Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität.

Was wir also brauchen, ist ein Bewusstsein für unsere gemeinsame Verantwortung, unabhängig von nationalen Grenzen, und in der Konsequenz davon mehr internationale Zusammenarbeit, mehr Verflechtung und Vernetzung. Das verlangt ein „neues Denken“: weg von traditioneller Macht- und Balancepolitik, weg von einseitiger Durchsetzung nationaler Interessen. Statt dessen brauchen wir eine langfristig angelegte Politik, die gemeinsame Interessen definiert und gemeinsame Chancen sucht. Das ist der Weg, den wir gehen müssen! Unser gemeinsamer Weg!

Und mit diesem Blickwinkel entdecke ich unendlich viele neue Möglichkeiten und Gestaltungsspielräume in der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland – politisch, wirtschaftlich, in der Wissenschaft und Kultur. Wir haben gemeinsam ungeahnte Chancen, wenn wir die Denkmuster des Kalten Krieges überwinden!

Anrede,

Russland ist und bleibt für Deutschland und die EU ein unverzichtbarer Partner auch bei der politischen Gestaltung der Welt von morgen. Wir brauchen Ihr Land als Partner für Sicherheit und Stabilität in Europa und weit darüber hinaus. Wir brauchen einander bei Fragen der Energiesicherheit, bei der Rüstungskontrolle oder im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus.

Ich bin überzeugt: Es wird in Europa, im ganzen eurasischen Raum keine Sicherheit ohne oder gar gegen Russland geben. Aber umgekehrt gilt auch: Das große Ziel einer europäischen Friedensordnung vom Atlantik bis Wladiwostok wird nur dann gelingen, wenn auch Russland bereit ist, uns auf diesem Weg entgegenzukommen.

Russland steht vor gewaltigen Modernisierungsaufgaben: Bei der Erneuerung der Infrastruktur, bei Investitionen, bei der Schaffung einer sozial gerechten Gesellschaft. Vor Ihnen liegt die ungeheure Aufgabe, den Rohstoffreichtum Ihres Landes zu nutzen, um eine breit aufgestellte, weltweit wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen.

In all diesen Bereichen sehe ich eine große Schnittmenge gemeinsamer Interessen. Deutschland und die EU sind die natürlichen Modernisierungspartner Ihres Landes. Wir wollen diese Partnerschaft und gegenseitige Verflechtung zum gemeinsamen Vorteil der Menschen in Russland, Deutschland und ganz Europa! Wir wollen, dass der historisch einzigartige Prozess der Transformation und Modernisierung Russlands ein Erfolg wird!

1. Teil der Rede von Bundesaussenminister Frank-Walter Steinmeier am 13.5.2008 in Jekaterinburg im Ural.

Fortsetzung der Steinmeier-Rede (Teil 2) hier >>>

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