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Katastrophen wie in Jaroslawl ist - Missverständnis an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik . (Foto: TV)
Katastrophen wie in Jaroslawl ist - Missverständnis an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik . (Foto: TV)
Freitag, 04.11.2011

Jaroslawl-Absturz: Wie leben in einer gefährlichen Welt

Sönke Paulsen, Berlin. Die Katastrophe einer Yak-42 in Jaroslawl weckt den Eindruck, dass gravierendes Versagen von Piloten eine häufige Absturzursache darstellt. Dies ist aber nicht der Fall.

In Wirklichkeit handelt es sich bei menschlichem Versagen um eine Beziehungsstörung zwischen Mensch und Technik. Die Schuldfrage impliziert schweres Fehlverhalten, wobei sehr häufig „slight errors“, leichte Fehler also, die eigentlichen Ursachen für Katastrophen sind. Viel gefährlicher als ein schwerer Fehler sind viele leichte Fehler, die ein System instabil machen. Fliegen ist an sich ein instabiles System.

Menschliches Versagen nur die halbe Wahrheit


Systeme die auf Perfektionismus angewiesen sind, kippen immer an der schwächsten Stelle. Als Schwachpunkt wird dann häufig der menschliche Faktor deklariert. Dies ist allerdings auch bei menschlichem Versagen nur die halbe Wahrheit.

Die andere Hälfte ist das ständig drohende Missverständnis zwischen Mensch und Technik. Technische Bedienelemente, so genannte Interfaces, welche die Schnittstelle zwischen Mensch und Technik darstellen, sind dann meist der Tatort, an dem Katastrophen entstehen.

Erstaunlich aber, was Piloten in Notfällen so alles vermögen. Die Notwasserung auf dem Hudson-River ist noch nicht vergessen, da schaffen die Piloten einer Iran-Air Boeing 727 eine sanfte Nasenladung im Schaumteppich des Teheraner Airports.

Am 1. November 2011 kommt noch die polnische LOT-Maschine dazu, die eine Bilderbuchlandung ganz ohne Fahrwerk in Warschau hingelegt hat. Natürlich auch auf einem Schaumteppich.

Nur glauben wir lieber nicht, dass solche Glanzleistungen zuverlässig reproduzierbar sind. Vergessen wir auch nicht die Wartungsmängel, die hinter diesen Notlandungen stecken. Aber dennoch sind 80 Prozent der Flugunfälle auf menschliche Faktoren zurückzuführen.

Missverständnisse an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik


Wer allerdings einmal einen Blick in das Cockpit einer Yak-42 wirft, wird von der Komplexität der Bedienelemente und Anzeigen beeindruckt sein. Die Engineering Psychology beschäftigt sich mit solchen komplexen Schnittstellen zwischen Mensch und Technik. Manchmal reichen hier banale Missverständnisse aus, um Flugzeuge zum Absturz zu bringen.

Bei Russland-Aktuell
• Yak-Absturz: Nervenkranker Pilot stand auf der Bremse (03.11.2011)
• Yak-Absturz: Pilotenfamilien wollen neue Expertise (02.11.2011)
• Der Crash von Jaroslawl – mehr als ein Blondinenfehler (12.10.2011)
• Safety last: Gefährliches Draufgängertum im Cockpit (09.09.2011)
• Jaroslawl: Jet mit Eishockey-Mannschaft abgestürzt (07.09.2011)
Der Birgen-Air-Absturz in den Neunzigern, bei dem es keine Überlebenden gab, wurde durch solch ein Missverständnis ausgelöst. Die redundant ausgelegten Instrumente lieferten widersprüchliche Ergebnisse, die zunächst den Autopiloten und dann die Piloten selbst so stark irritierten, dass sie nicht mehr in der Lage waren, das Flugzeug sicher in der Luft zu halten.

Wahrscheinlich waren es eben diese Missverständnisse, die bei vereisten Geschwindigkeitssensoren den Flug AF 447 in einem Gewitter über dem Atlantik zum Absturz brachten. Auch hier überlebte niemand.

Der Kollision eines russischen Passagierflugzeuges mit einem Frachtflugzeug über dem Bodensee, bei der vor neun Jahren viele unschuldige Kinder ums Leben kamen, musste psychologisch gesehen zur Suche nach einem Schuldigen führen. Dieser wurde bei der Schweizer Flugsicherung entdeckt. Ein Fluglotse bildete das Ende einer Systemkollision, die ebenfalls auf einer Inkompatibilität zwischen menschlichen und technischen Überwachungssystemen beruhte.

Die Anti-Kollisionssysteme in den beiden Flugzeugen waren unterschiedlich ausgelegt, der Fluglotse erkannte die Gefahr zu spät und gab genau die falschen Korrekturen der Flughöhen an.

Es war ein Fehler nach dem Muster zweier Menschen, die sich überraschend begegnen und beide in die gleiche Richtung ausweichen, um dann, wie von magischer Hand gesteuert, zusammenzustoßen, nur dass beide noch ein Anti-Kollisions-System bei sich trugen, welchem sie nicht vertrauten.

Wäre der Fluglotse einfach Kaffee trinken gegangen und hätte die Flugzeuge ihrer Technik überlassen, wäre der Crash vermutlich nicht passiert. Die russische Crew hätte sich schlicht auf ihr Antikollisions-System verlassen und wäre unbehelligt weiter geflogen. Am Ende bezahlte dieser Fluglotse seinen Fehler mit dem Leben. Er wurde, als Schuldiger an dem Tod der Kinder, ermordet.

Verlust der Fähigkeit zum komplexen Denken


Psychologisch gesehen, können wir, sobald sich ein Problem in den Vordergrund drängt, genau dieses Problem beachten und alles drum herum vergessen. Wir verlieren dann die Fähigkeit, komplex zu denken.

Die Piloten von Jaroslawl glaubten während der Startprobleme an einen verstellten Stabilisator und hofften das vermeintliche Problem durch eine rasche Korrektur und ein forciertes Startmanöver in den Griff zu bekommen. Als dies nicht gelang, verfielen sie in Verwirrung und landeten psychologisch gesehen auf dem Niveau von Anfängern. Dies ist nicht ungewöhnlich.

Bei Russland-Aktuell
• Bodensee-Katastrophe: Kalojew kehrt heim nach Russland (12.11.2007)
• Kalojew bittet Kinder des Fluglotsens um Vergebung (28.10.2005)
• Acht Jahre Zuchthaus für Vitali Kalojew (27.10.2005)
• Russe wegen Rachemord an Fluglotsen verhaftet (26.02.2004)
• Flugzeugunglück am Bodensee (02.07.2002)
Die letzten Worte des erfahrenen Birgen-Air-Piloten waren: Allah, Allah…! Im Türkischen ist das kein Gebet, sondern Ausdruck der Verwirrung und meint so viel wie: Shit, what happens! Ähnliche Verwirrung ließ sich den Aufzeichnungen des Voice-Recorders der Unglücksmaschine von Jaroslawl entnehmen. Der Copilot fragte den Piloten geschockt: „Was machst Du?“, und: „Andreij?!“

Das sind typische Situationen für das Auftreten von so genannten Interferenzen. Damit sind unkontrollierte Fehlhandlungen gemeint, die automatisch ausgeführt werden, obwohl sie in der Situation nicht passen.

Der Copilot drückt versehentlich die Bremse, der Pilot überzieht das Ruder. Der eine sieht den Fehler des anderen, korrigiert aber den eigenen Fehler nicht. Koordination und Kontrolle gehen verloren. Unzählige Beispiele aus den Unfallakten belegen diese menschliche Schwachstelle.

Die Piloten von Jaroslawl litten bei allen bekannten Unterstellungen an derselben Krankheit aller Piloten und Menschen, die sich an den Schnittstellen zur Technik bewähren müssen: Sie waren nicht perfekt auf die Technik abgestimmt und zeigten in einer unübersichtlichen Situation eine ausgeprägte kognitive Einengung.

Was haben Jaroslawl und Tschernobyl gemeinsam?


Unsere Suche nach Schuldigen verdrängt oft die Tatsache, dass wir uns in unsicheren Systemen bewegen. Wenn wir einen Schuldigen gefunden haben, wiegen wir uns wieder in vermeintlicher Sicherheit. Das ist nicht nur beim Fliegen so, sondern auch in der Medizin und bei Risikotechnologien, wie der Atomkraft.

Die Schuldigen werden dann häufig wie moderne Hexen verbrannt, weil sich die Menschheit ihr hochriskantes Lebensumfeld nicht eingestehen mag. Die Ingenieure von Tschernobyl, haben ähnlich wie die Unglückspiloten von Jaroslawl bei einer vermeintlich leichten Übung versagt. Ein einfacher Reaktortest führte ins Missverständnis und damit in die Katastrophe. Die Komplexität einer überraschenden Situation überforderte selbst die Spezialisten.

Das ist die mutmaßliche Polyneuropathie des Copiloten, die vielleicht auch nur eine Angststörung war, welche mit Hyperventilation und Missempfindungen in Armen und Beinen einherging und seine Einnahme von Medikamenten. Die geringe Mustererfahrung des Piloten und eine mögliche Beeinträchtigung seines Gesundheitszustandes mögen hier verhängnisvoll gewirkt haben.

Aber dennoch beweisen viele zurückliegende Flugunfälle, dass auch wesentlich weniger belastete Situationen in die Katastrophe führen können. Als Konsequenz müssen wir deutliche Abschläge in unseren Sicherheitsansprüchen hinnehmen. Fliegen wird durch die Verdrängung von Gefahren nicht sicherer.

Wer in ein Flugzeug steigt, weiß, dass er abstürzen kann. Piloten sind keine Götter. Ärzte und Ingenieure übrigens auch nicht. Wir leben in einer gefährlichen Welt!


Sönke Paulsen ist Arzt, Personal-Trainer und Sportpilot aus Berlin. Er referierte mehrere Jahre vor Fluglehrern und Piloten über Flugpsychologie.


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