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Holger Kaminski erzählt Russland-Aktuell von seiner Arbeit als Lehrer-Koordinator in St. Petersburg. (Foto: Bail/.rufo) |
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Montag, 20.12.2010
Bildung: Deutsche jammern auf hohem Niveau, Teil IISt. Petersburg. Holger Kaminski koordiniert seit 2009 die Arbeit von deutschen Lehrern in St. Petersburg. Martina Bail sprach mit ihm über das russische Bildungssystem. Hier finden Sie die Fortsetzung des Gesprächs.
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Martina Bail: Sehr viele Staatsmittel werden ja auch von den primären Bildungseinrichtungen und den Kleinstadtuniversitäten weg in Elite-Hochschulen wie die MGIMO (Moskauer Staatliches Institut für Internationale Beziehungen) transferiert.
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Holger Kaminski: Die staatlichen Schulen sind dank diverser staatlicher Einzelprojekte trotzdem oft erstaunlich gut mit Technik ausgestattet. Unsere deutschen Lehrkräfte staunen oft nicht schlecht über das im Vergleich zu den altersschwachen Overhead-Projektoren an so manchen deutschen Schulen hypermoderne Equipment .
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Das von Ihnen erwähnte Phänomen hängt aber einerseits mit der Unterfinanzierung und der möglichst prestigereichen Allokation der Mittel, andererseits mit der negativen demographischen Entwicklung Russlands zusammen.
Da die russische Bevölkerung aufgrund der niedrigen Geburtenrate momentan schrumpft, setzt die Strategie der Regierung neben der Konzentration auf Leuchtturm-Unis verstärkt auf praxisorientierte Ausbildungen und nicht auf Hochschulabschlüsse an sich...
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Martina Bail: Russland glaubt also, dass es zu viele Denker hat.
Holger Kaminski: Das ist Ihre Interpretation (lacht).
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Seit einigen Jahren versucht die Regierung, den Denkern einheitliche Aufnahmebedingungen zu verschaffen. Seit 2009 gibt es die Einheitlichen Staatsprüfungen am Ende der 11. Klasse in ganz Russland (Russisch und Mathe, dazu abhängig vom Studienwunsch so viele weitere Fächer wie möglich).
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Dadurch soll die Aufnahme an Universitäten stärker davon abhängen, was der Bewerber im Kopf, nicht in der Tasche hat. Dies kann auch einem hervorragenden Schüler aus entfernten Gebieten Russlands ein Studium in Moskau oder St. Petersburg ermöglichen.
Die Einheitlichen Staatsprüfungen werden nicht nur wegen schwer zu knackender Inhalte heiß diskutiert, sondern auch als Mittel für mehr Transparenz und Vergleichbarkeit im Bildungswesen und gegen Korruption.
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Martina Bail: Von den Schülern zu den Lehrern wie hat sich der Status der Lehrkraft seit der Sowjetzeit verändert?
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Holger Kaminski: Da haben wir deutschen verbeamteten Lehrer im Vergleich wenig zu klagen, da wir auch im europäischen Vergleich relativ gut bezahlt sind. Die russischen Kollegen werden sehr schlecht bezahlt, was in keinem Verhältnis steht zu der Motivation, mit der sie an ihre Erziehungsaufgabe herangehen.
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Ihr Engagement ist oft zu bewundern! Junge Frauen im Beruf (das russische Schulsystem ist fest in weiblicher Hand) suchen aber verstärkt Jobs anderswo, in der Wirtschaft, wo sie besser verdienen.
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Der ideologische Kleister der Sowjetzeit, als der Lehrer als Erzieher des Volkes gepriesen wurde, fehlt heute. Und die geringe Bezahlung gilt eben heute nicht mehr für alle Berufsgruppen gleichermaßen...
Der Erfolg des Schülers wird hier stärker direkt mit der Lehrerleistung verknüpft. Im Zweifelsfalle kann der Lehrer für den Misserfolg eines Schülers verantwortlich gemacht werden. Das führt zu einer geringeren Auslese fast niemand fällt durch und einer Scheu vor der Vergabe schlechter Noten.
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Wenn jetzt etwa ein Schüler aus einer Klasse mit erweitertem Deutschunterricht auf der Kippe steht, kann es vorkommen, dass er nicht zum DSD angemeldet wird, weil sich ein Versagen negativ auf das Ansehen der Lehrkraft auswirken könnte.
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Ganz unbekannt ist dieses Phänomen in Deutschland nicht: Auch bei uns wird diskutiert, Schüler nicht mehr sitzenbleiben zu lassen. Die Überlegung an sich ist nicht schlecht, wenn jeder Schüler mitgenommen und individuell gefördert wird!
Martina Bail: Was könnte sich Deutschland sonst noch vom russischen Schulsystem abgucken?
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Holger Kaminski: Dank des gemeinsamen Lernens von der 1. bis zur 11. Klasse gibt es hier eine viel stärkere Identifikation mit der eigenen Schule, was ein Phänomen ist, das sich bei uns oft erst während der Abschlussklasse herausbildet. "Unsere Schule" ist ein häufig verwendetes geflügeltes Wort, das mit der Idee einer großen Familie verknüpft ist.
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Von der Festtagskultur können wir uns auch bestimmt etwas abgucken und vom Hang zum Zeremoniellen ein Stück!
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Martina Bail: Vielen Dank für das Gespräch!
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