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Sollten sich die Fälschungs-Befürchtungen bewahrheiten, könnten sich die Wähler bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses ganz besonders wundern (Foto: fontanka.ru) |
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Sonntag, 04.12.2011
Hacker-Attacken und Festnahmen am Duma-WahltagMoskau. Überschattet von Wahlfälschungs-Vorwürfen und Polizeieinsätzen haben die Bürger Russlands ein neues Parlament gewählt. Mehrere kritische Internetseiten waren heute durch eine großangelegte Cyber-Attacke lahmgelegt.
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Mit der Abstimmung leiteten Regierungschef Wladimir Putinund Präsident Dmitri Medwedew ihren für 2012 geplanten Ämtertausch ein. Die Wahl galt daher vor dem Hintergrund sinkender Sympathiewerte als Stimmungstest für das Machttandem.
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Die von Putin geführte Regierungspartei Einiges Russland (ER) rechnet mit einem hohen Sieg. Regierungsgegner wie der nicht zur Wahl zugelassene Politiker Wladimir Ryschkow sprachen schon vorab von der «schmutzigsten Wahl» seit dem Ende der Sowjetunion.
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Hacker attackieren am Wahlmorgen das Internet
Mehrere kremlkritische Internetseiten etwa des Radiosenders Echo Moskwy oder der Wahlbeobachterorganisation Golos waren am Wahltag zunächst blockiert. Auch der Webauftritt der einflussreichen Tageszeitung Kommersant sowie die Blogger-Plattform Livejournal konnten wegen mutmaßlicher Hackerangriffe zum Teil den ganzen Tag nicht aufgerufen werden.
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Dies ist der erste derartig umfangreiche Zwischenfall dieser Art in Russland. Das Internet ist in einem von staatshörigen Sendern geprägten Medienumfeld ein wichtiger Raum für die Meinungsfreiheit.
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Proteste gegen Wahlen von Polizei aufgelöst
In Moskau protestierten mehrere Dutzend Menschen mit Flugblättern gegen «unsaubere Wahlen». Eine Gruppe junger Leute skandierte «Schande». Die Polizei nahm zahlreiche Oppositionelle fest, darunter den Skandalautor Eduard Limonow. Auch bei Protesten in St. Petersburg griffen die Sicherheitskräfte hart durch und nahmen am Abend 70 Teilnehmer einer nicht genehmigten Kundgebung am Gostiny Dwor fest.
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Für den Abend kündigte hingegen die Kremljugend eine Kundgebung an. Wahlkommissionschef Wladimir Tschurow hatte Fälschungsvorwürfe zurückgewiesen und die Abstimmung «kristallklar und sauber» genannt. Bis zum frühen Nachmittag hatten auch renommierte Menschenrechtsorganisationen wie Memorial oder Für Menschenrechte keine einschneidenden Wahlrechts-Verstöße gemeldet.
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Wahlbetrug im großen Stil: Die Karusselle drehen sich wieder
Gegen Abend veröffentlichten aber bereits mehrere Medien Berichte über sogenannte Karusselle, bei denen instruierte Wähler von einem Wahllokal zum anderen transportiert werden, um dank spezieller Erkennungszeichen mehrfach abzustimmen. Zum Teil haben die angeworbenen Wahlfälscher auch die Aufgabe, gleich ganze Stapel an Wahlzetteln in den Urnen zu versenken.
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Im flächenmäßig größten Land der Erde mit neun Zeitzonen waren insgesamt etwa 110 Millionen Menschen zur Wahl der 450 Abgeordneten für die Staatsduma aufgerufen. Am Abend nach der Schließung der letzten Wahllokale um 18.00 Uhr MEZ werden erste Prognosen und Ergebnisse erwartet.
Vier von sieben Parteien vor Einzug in die Duma
Außer Einiges Russland mit Medwedew als Spitzenkandidaten rechneten drei Parteien mit dem Sprung über die Sieben-Prozent-Hürde für die Staatsduma: die Kommunisten, die nationalistische Liberaldemokratische Partei des Rechtspopulisten Wladimir Schirinowski sowie die sozialdemokratische orientierte Partei "Gerechtes Russland".
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Die Kremlpartei muss letzten Umfragen zufolge um ihre Zweidrittelmehrheit bangen, mit der sie im Alleingang die Verfassung ändern kann. Putin, der bereits von 2000 bis 2008 Präsident war, will sich am 4. März 2012 wieder in den Kreml wählen lassen. Der amtierende Präsident Medwedew soll dann Regierungschef werden.
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Kritik aus Deutschland: "Putin kein Demokrat"
Überraschend deutliche Kritik an der Führung in Moskau hatte am Vortag der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Andreas Schockenhoff (CDU), in einem Interview von Deutschlandradio Kultur geäußert. «Putin ist kein Demokrat», sagte der Vize der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und prangerte einen «Rückfall in sowjetische Muster» an. Dabei kritisierte Schockenhoff vor allem das Vorgehen gegen die einzige unabhängige russische Wahlbeobachterorganisation.
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Golos war von Putin als «Judas» bezeichnet und wegen angeblichen Verstoßes gegen das Wahlrecht zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Der russische Zoll beschlagnahmte einen Computer der Golos-Chefin Lilija Schibanowa zur Auswertung.
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Das Parlament wird nach einer Verfassungsänderung erstmals für fünf Jahre gewählt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kontrollierte mit etwa 300 Beobachtern den Ablauf der Abstimmung.
(dpa)
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Paulsen-Consult 04.12.2011 - 23:38
Kritik ist auch Selbstkritik
Die Wahlergebnisse für ER sind vor allem eines, nüchtern und ohne jeden Glanz. Es war natürlich schon vorher klar, dass ER notfalls mit Unterstützung einer Sateliten-Partei weiter regieren kann, aber mit Sicherheit niccht mehr so bequem. Auch die Sateliten sind unzufrieden geworden und zeigen ihr Kreml-treues Abstimmungsverhalten in der Duma nicht mehr so gern. Man bleibt einfach sitzen, wenn ER bei einer Rede Putins geschlossen aufsteht. Dies gilt für Schirinowskis so genannte Liberalen und für gerechtes Russland gleichermaßen. Gott verhüte, dass Russland erneut den Kommunisten in die Hände fällt. Nicht weil der Kommunismus etwas schlechtes wäre, sondern weil es ein Sammeltopf ideenloser Reaktionäre ist, die hauptsächlich noch von alten Leuten und Proteswählern an den Wahlurnen profitieren. Es gibt also de facto keine Alternative zu ER und genau hier fängt die richtige Kritik an Putins Kaderpartei an. Russland befindet sich bereits derart perfekt in den Händen des FSB und der Putin-Administration, dass keine neue Opposition entstehen kann. Wie konsequent dieses Regime geführt wird, zeigen die berichtetn Hackerangriffe auf alles, was echte oppositionelle Qualität haben könnte, inclusive der russischen Wahlbeobachter von Golos. In sofern hat Schckenhoff natürlich recht, wenn er Putin nicht als Demokraten sieht. Das ist allerdings alles andere als neu. \\r\\nLeider haben wir Westeuropäer zur Zeit selbst ein kleines Problem mit der Demokratie, welches zwar nicht mit denen der Übergangsgesellschaften aus dem Osten vergleichbar ist, aber gravierend genug, um die Kritik Putins am Westen ernst zu nehmen. Wenn selbst Helmut Schmidt am heutigen Tage auf dem Bundesparteitag der SPD Jürgen Habermas mit den Worten zitiert, dass die Demokratie in der EU auf dem Rückzug sei, und dem auch noch zustimmt, haben wir wirklich ein Problem! In dieser Hinsicht muss man die eingelaufene Russland-Kritik der deutschen Leitmedien leider als tendentiös bezeichnen. Spiegel und Zeit kolportieren nur die bekannten russischen Demokratie-Defizite und weigern sich hartneckig, notwendige Vergleiche zu unseren Demokratie-Verlusten in der Eu herzustellen. In Russland sind es die kremelnahen Oligarchen, die das Volk der Demokratie enteignen, in der EU sind es die Finanzmärkte und die Politiker, die nun meinen, Europa marktkonform regieren zu müssen, ohne ihre Parlamente ausreichend zu beteiligen. Das europäische Parlament ist zwar unabhängiger, als die Duma, aber keinesfalls wirkungsvoller in Bezug auf demokratische Mitgestaltung. Auch dies kritisierte Helmut Schmidt in seiner heutigen Rede vor der SPD. \\r\\nBitte nicht falsch verstehen. Es gibt schon einen deutlichen Unterschied zwischen alt eingessenen und konsolidierten Demokratien und den Übergangsgesellschaften, Russlands, Ksachstans, Weissrusslands und der Ukraine. Allerdings ist die scheinbare moralische Entlastung, die bei uns entsteht, wenn wir mit dem Finger auf Putin zeigen, ist allerdings trügerisch. Die ehemaligen Sowejetstaaten und die europäische Union befinden sich derzeit in demselben Strudel, der unsere demokratischen Träume und Errungenschaften in den globalen Abfluss spülen könnte. Die demokratischen Institutionen sind in Westeuropa nur noch Verhandlungspartner der Märkte mit begrennzter Verhandlungsmacht. Eine solche Situation auf Russland übertragen zu wollen, wäre für diese Gesellschaft destruktiv, weil sich unabhängig agierende Konzerne, Investmentfonds und Spekulanten noch nie um demokratische Belange geschert haben, wenn sie nicht dazu gezwungen wurden. Russlands halbstaatliche Wirtschaft, die sich vor allem in der Korruption mit der Politik vereint, erlaubt zumnindest noch einen Rest an Einfluss auf die sonst ungezügelte Marktwillkür. Natürlich wäre ein Rechtsstaat besser, aber die Oligarchen im Kreml werden das nicht wollen. Nicht zu vergessen, Wladimir Putin, den wir inzwischen auch zu den Oligarchen zählen müssen.
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