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15-11-2001 Karsten Packeiser |
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Eiszeit am Narva-Fluss
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Von Karsten Packeiser, Narva/Iwangorod. Zehn Meter hinter Ellonas Kiosk endet Europa: ein Maschendrahtzaun, die Abfertigungsgebäude von Zoll und Grenzschutz, dahinter die “Freundschaftsbrücke” über den Narva-Fluss. Am linken Ufer liegt die estnische Stadt Narva, am rechten das russische Iwangorod. Ellona verkauft in ihrem Kiosk Schokoladenriegel und Dosenbier an die Reisenden. Außerdem tauscht sie russische Rubel und Dollar in estnische Kronen. Ihr Geschäft ist die Grenze.
Ellonas letzter Besuch in Iwangorod liegt mittlerweile Jahre zurück: “Ich habe kein Visum, um nach Russland zu gehen. Das ist schwierig zu bekommen und auch ziemlich teuer“, meint die junge Estin. Eigentlich ist es ihr aber auch egal, dass das andere Ufer für sie unzugänglich ist.
Schon im Mittelalter verlief am Narva-Fluss die Grenze zwischen dem russischen Zarenreich und dem Baltikum, in dem Schweden und Dänen herrschten. Aus dieser Zeit stammen die beiden Trutzburgen, die sich heute an den steilen Ufern gegenüberstehen. Zu Sowjetzeiten bestand die Verwaltungsgrenze zwischen Narva und Iwangorod dagegen nur auf dem Papier. Jeden Tag überquerten die Einwohner der beiden Städte die Brücke auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder zum Verwandtenbesuch.
Das ist seit der Unabhängigkeit Estlands vor zehn Jahren vorbei. Alle Pendler aus Iwangorod, die früher in Narva arbeiteten, wurden mittlerweile entlassen.
Aber auch heute gibt es nach russischen Angaben noch vierhundert getrennte Familien zwischen beiden Stadthälften. Für mehrere Tausende Menschen in Narva und Iwangorod gehört die Grenze zum Alltag. “Ich muss oft über die Grenze”, sagt der Frührenter Wjatscheslaw Nesterow aus Narva, der sich in Iwangorod um seine 90 Jahre alte Mutter kümmert. “Als mein letztes Visum abgelaufen war, hat es sechs Wochen gedauert, bis die Russen mir ein neues austellten. Ich weiß auch nicht, warum sie mir jedes Mal den Pass abstempeln. Der hat doch nicht unbegrenzt viele Seiten.”
Dabei haben die Einwohner von Narva noch Glück gehabt. Die Russen aus Iwangorod müssen ihren Visaantrag beim estnischen Konsulat in St. Petersburg einreichen. Das sind dreieinhalb Stunden Fahrt je Richtung mit dem Überlandbus. Der EU-Beitrittskandidat Estland hat inzwischen fast alle Ausnahmen für einen vereinfachten Grenzübertritt abgeschafft.
In Narva dagegen gibt es immerhin ein russisches Generalkonsulat. Konsul Alexander Safronow residiert in einem ehemaligen Kindergarten direkt gegenüber dem alten Barock-Rathaus und klopft nervös mit seiner Zigarette auf den Schreibtisch, wenn er redet. Er gibt den Esten und deren einseitig westorientierten Politik die Schuld für die Eiszeit am Narva-Fluss. “Europa besteht darauf, dass diese scharfen Regeln hier an der Grenze gelten. Und die Esten gehen ohne Bedenken darauf ein”, sagt der Diplomat resigniert. Eigentlich müsste es im Interesse Estlands liegen, die Zusammenarbeit der Grenzregion mit Russland auszubauen, aber die Regierung in Tallinn sei überhaupt nicht daran interessiert, so Safronow.
Narva hat etwa 75.000 Einwohner und ist bis heute zweifellos die russischste Stadt des Baltikums. Für 95 Prozent der Menschen hier ist Russisch die Muttersprache. Straßenschilder und Werbeplakate sind dennoch fast ausschließlich in Estnisch. So will es das estnische Gesetz über die Staatssprache.
Narva ist aber nicht nur eine russische Stadt, sondern auch eine Stadt der Staatenlosen. Nur ein Drittel der Einwohner besitzt die estnische Staatsangehörigkeit. Die anderen haben entweder einen russischen Pass oder den grauen estnischen Staatenlosen-Ausweis. Die meisten Staatenlosen scheitern an der Sprachprüfung, die jeder Anwärter auf eine Einbürgerung bestehen muss.
Weil sie so eine überwältigende Mehrheit bilden, fühlen sich die Russen in Narva von den estnischen Gesetzen aber nicht diskriminiert. Dmitrij Panow, Nachrichtenredakteur des russischsprachigen Radiosenders 100FM, muss vielmehr lachen, wenn er an die grotesken Auswüchse der estnischen Sprachgesetzgebung denkt. Regelmäßig reise etwa die Sprach-Kontroll-Kommission aus Tallinn nach Narva und rege sich auf, weil im Stadtparlament von Narva auf Russisch debattiert wird. “Das ist nämlich illegal, auch wenn alle bis auf zwei Abgeordnete Russen sind”, erzählt Panow. Das Stadtparlament ignoriere einfach alle Aufforderungen, die Geschäftssprache zu wechseln.
Panows Sender spielt US-Charts und russischen Pop, estnische Musik gibt es hier nicht. Dafür dürfen Hörer aus Narva und Umgebung im Studio anrufen und ihre Freunde in Iwangorod grüßen. Das Angebot wird gut genutzt – Ultrakurzwellen sind eine der wenigen verbliebenen Brücken zwischen beiden Ländern.
“Ich verstehe nicht, wozu dies alles gut sein soll. Anderswo in Europa können die Menschen frei über die Grenzen gehen. Hier müsste es doch erst recht so sein, wo wir früher alle in einem Staat gelebt haben“, meint Wjatscheslaw Nesterow und schüttelt den Kopf. Heute immerhin hat er Glück gehabt. In nur zwanzig Minuten hatte er den russischen Zoll passiert. Wenn er das nächste Mal nach seiner kranken Mutter in Iwangorod sieht, wird er vielleicht anderthalb Stunden auf seinen Stempel im Pass warten müssen.
(epd) |
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