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14-09-2004 Neue Reportagen |
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Freiwillige Helfer: Kleine Dienste, große Wirkung
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Von Mandy Ganske, St. Petersburg. Im Psycho-Neurologischen Internat (PNI) Nr. 3 in Peterhof steht Mischa am Fenster und winkt den Freiwilligen zu, die allmorgendlich eintreffen – darunter auch Claudia Pausch. In ihrem freiwilligen sozialen Jahr kam die junge Deutsche täglich dorthin, um Behinderten, die dort nur verwahrt werden, Aufmerksamkeit zu schenken.
Mischa ist Mitte zwanzig und taub. Er wurde als Kind ins Heim gegeben und lernte nie die Gebärdensprache. Und obwohl er geistig völlig normal auf die Welt kam, hielt ihn niemand für förderungswürdig – Taubheit wurde zur Behinderung, die ihm ein normales Leben verwehrte. In Russland ist so etwas noch möglich.
Mit 18 Jahren kam Mischa dann in das Erwachsenenheim in Peterhof, wo etwa 1000 Menschen hinter den weiß-grauen Fassaden nah des Finnischen Meerbusens leben – unbemerkt von der Außenwelt. Nicht einmal ein Schild weist den Weg durch ein Birkenwäldchen vom Bahnhof zum Internat. Dorthin kommt, wer alt, obdachlos, behindert, psychisch krank oder einfach in der Gesellschaft nicht gebraucht wird. So wie Mischa.
Claudia begrüßt ihn jeden Morgen. Heute zeigt er ihr seine neue Uhr aus buntem Plastik mit einem lustigen Bildchen auf dem Ziffernblatt. Ein Farbencrash in dem faden, langen Flur, in dem sie ihn trifft.
So wie die neunzehnjährige Claudia kommen jährlich etwa acht deutsche und russische Freiwillige dem Verein „Perspektiven“ in St. Petersburg zu Hilfe, um im PNI sowie in einem Kinderheim im Petersburger Vorort Pawlowsk zu arbeiten. Dort betreuen die Mitarbeiter von „Perspektiven“ die Behinderten so, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können.
Staatliche Heime sind Verwahrungsanstalten
Denn die staatlichen Heime sind bis heute nicht mehr als Verwahrungsanstalten. Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es kaum, viele Bewohner liegen nur im Bett herum, zumal auf den öden Fluren nichts Außergewöhnliches auf sie wartet. Im Kinderheim werden ihnen die Haare abrasiert – das spart Zeit. So sterben viele an Vernachlässigung.
Behinderte werden zudem oft für nicht entwicklungsfähig angesehen. Wozu also sie aus den Betten holen, mit ihnen spazieren gehen oder basteln? Unterbezahlte Schwestern und Pfleger, die sich um überdimensionierte Gruppen in 24-Stunden-Schichten kümmern müssen, haben dazu wenig Anlass.
Die behinderten Kinder, die von „Perspektiven“ schon im Kinderheim in Pawlowsk betreut werden, kommen dank einer Vereinbarung zwischen den Häusern nach Peterhof und können dort weiter in den Händen des Vereins bleiben.
Etwa 70 Frauen und Männer werden so im PNI einer Behandlung zuteil, die in Deutschland eine Selbstverständlichkeit, in Russland aber ein Novum darstellt: Die Freiwilligen helfen beim Zähneputzen sowie beim Anziehen und verbringen den Tag mit den Frauen und Männern. Sie gehen spazieren, ins Art-Studio oder in die Handwerkstatt, wo Bilder gemalt und Deckchen gewebt werden. Einige der Bewohner finden gar Arbeit in den Heimwerkstätten, der kleinen Wäscherei oder im Café, wo sie täglich Mittagessen zubereiten – so fühlen sie sich erstmals im Leben wirklich gebraucht.
Mit dem Rollstuhl durch Petersburg – eine Tortour
Claudia muss sich inzwischen ein bisschen beeilen. „Meine Frauen warten“. In Zimmer 11 freuen sich Galja, Lena, Ira und Tanja schon auf sie. Claudia hat heute was Süßes mitgebracht, denn Lena hatte Geburtstag. Dann beratschlagen sie, was heute unternommen werden soll.
Los geht es zum Spaziergang – Tanja und Ira wollen gern an die frische Luft. Galja und Lena finden es zu kühl, wollen dann aber nach dem Mittagessen mit Claudia im Art-Studio werkeln. Ira ist spastisch und braucht einen Rollstuhl; die geistig behinderte Tanja läuft schon los, um einen zu holen. In der Zeit schaut Claudia noch bei Nadja vorbei, die zu ihrer Gruppe gehört, aber ein paar Türen weiter ihr Bett hat.
Auf sie ist Claudia insgeheim stolz. Denn die 19-jährige Nadja war früher meist in ihrem Bett geblieben. „Sie kann eigentlich laufen, aber es hat kaum jemand gefördert“, erklärt Claudia. Jetzt schnappen sie sich oft den Rollstuhl, gehen spazieren und Nadja, die so groß wie eine Zehnjährige ist, geht immer auch ein kleines Stück ohne das Gefährt. „Außerdem gibt es bei ihr inzwischen ein Universalverb: ‚idti’ (auf deutsch ‚laufen/gehen’)“, freut sich Claudia. Und fügt an: „Sie benutzt es für alles: geh’, gehen wir und los.“
Auf dem Spaziergang darf sich auch Ira wieder auf ihren schlanken Beinen üben. Claudia hält sie fest an den Händen, als die kleine Frau stolz ihre zwanzig Meter zurücklegt. Sie ist vierzig Jahre alt und geistig fit. Trotzdem war ihre Mutter irgendwann gezwungen, sie in ein Heim zu geben. Zu anstrengend ist es, sich allein um einen Menschen zu kümmern, der im Alltag so viel Hilfe benötigt.
Zumal St. Petersburg grundsätzlich behindertenunfreundlich ist: Die wenigsten Gehwege sind so angelegt, dass Behinderte mit einem Rollstuhl ohne Probleme die Straße überqueren können – vom steilen Einstieg in einen Bus oder in die Straßenbahn ganz zu schweigen.
Die quirlige Ira – Claudias Verbündete im Sprachsalat
Zurück im Rollstuhl erzählt Ira der Freiwilligen auf ihre eigentümliche Weise mit langgezogenen Lauten, wie traurig es ist, dass Claudia bald wieder nach Hause fährt – der letzte Arbeitstag naht. Dabei versteht Claudia ihre Ausdrucksweise verblüffend gut, hatte sie doch gerade in Ira ihre erste Verbündete gefunden.
Denn als die Dresdnerin nach St. Petersburg kam, sprach sie kein einziges Wort Russisch. „Gerade Ira wusste, sich auf andere Art und Weise zu verständigen“, blickt Claudia zurück. „So traf ich sprachbehindert auf eine Sprachbehinderte – das machte die Arbeit leichter.“ Nach kurzer Zeit hatte Claudia dann die wichtigsten Schlüsselwörter gelernt. „Meine Mädels machten mir schon klar, was sie wollen. Ich bin schließlich derjenige, der ihnen helfen soll“, schmunzelt sie und schaut auf alles schon mit einem verabschiedenden Blick.
Vor ein paar Tagen ist Claudia per Schiff über die Ostsee nach Hause gefahren. In Deutschland wird sie noch ein Praktikum im Altenheim machen, bevor sie sich endgültig zwischen Ausbildung und Studium entscheiden will. Sicher ist dabei: „Mit der Arbeit im PNI habe ich herausgefunden, dass es das Richtige für mich ist, in dem Bereich bleibe ich.“
Der Sinn ist, dass es diesen 70 Menschen besser geht
Was die schlimmste Erfahrung hier für sie war? Zu Beginn war eine junge Frau gestorben, die das Bett neben Nadja belegt hatte. „Immerzu hat sie ‚Mama’ gewimmert, obwohl ich ihre Mutter nie zu Besuch gesehen habe. Das war so traurig.“ Nastja hieß das Mädchen, lag nur in ihrem Bett, ganz fahl und dünn wie ein Gerippe. Claudia wollte sie in ihre Gruppe holen, um mit ihr zu laufen, dachte, ihr helfen zu können. Bevor es gelang, starb das Mädchen. „Ja, danach habe ich mir viele Gedanken gemacht: Hätte ich sie früher in meine Gruppe geholt, wäre ich doch trotz des Verbots der Pflegerinnen mit ihr gelaufen.“
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im Internet |
• Webseite des Vereins Perspektiven (dt.)
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Doch das ändert nun nichts mehr - und Claudia weiß, dass „Perspektiven“ nicht allen helfen kann. So hat sie sich wegen der traurigen Erfahrungen nicht nur einmal nach dem Sinn ihres Einsatzes gefragt. Nach einem Jahr als Freiwillige in St. Petersburg gibt sie sich aber eine ganz klare Antwort: „Der Sinn dieser Arbeit ist, dass es diesen 70 Menschen bei uns besser geht.“
(mga/rufo)
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