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05-08-2004 Neue Reportagen |
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Wenn Lehrer auf der Straße schlafen
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Von Mandy Ganske, St. Petersburg. „Auf der Arbeit will keiner wissen, wo Du übernachtest“, sagt Juri Lagutin nüchtern. Er arbeitet als Sportlehrer und schläft derzeit in einer der drei Petersburger Obdachlosenunterkünfte. Jetzt eröffnet im Moskowski-Bezirk ein weiteres Nachtasyl. In der Sozialpolitik der Stadtregierung zeichnet sich damit eine neue Linie ab: Hilfe statt Problemverdrängung.
Zehn Minuten mit dem Bus Nummer 11 geht es von der Metrostation Moskowskaja in Richtung Industriegebiet. Dort steht die frisch renovierte Obdachlosenunterkunft in der Uliza Predportowaja 4a. Stiefmütterchen sind davor in Reih und Glied gepflanzt.
Direktor Sergej Prokofjew öffnet die Tür und bittet herein. Er führt durchs Haus und zeigt die gemütlichen Vier- bis Sechs-Bett-Zimmer, die auf die ersten zwanzig Bewohner warten. Wer hier einen Platz bekommt, braucht sich sechs Monate keine Gedanken darum machen, wo er am nächsten Tag schlafen oder was er essen wird. „Jeder der Bewohner kann es schaffen, neue Arbeit und eine Wohnung zu finden“, so Prokofjew.
Die Bedingungen für den Einzug ins Nachtasyl: Nur männliche Personen werden aufgenommen, denn Männer und Frauen sollen nicht zusammen leben – eine Sicherheitsmaßnahme. Weiterhin muss man vor der Obdachlosigkeit im Moskowski-Bezirk wohnhaft gewesen sein, eine ärztliche Untersuchung bestehen und mit der Überzeugung „Ich will arbeiten“ ins Amtszimmer treten meint Prokofjew.
400 Menschen sind im Moskowski-Bezirk als obdachlos registriert, weit höher ist die Dunkelziffer. Bis zum kommenden Monat wird ausgewählt, wer hier ein Dach über dem Kopf finden soll. Während der Zeit im Nachtasyl werden die Bewohner zudem psychologische Hilfe bekommen, Mitarbeiter greifen ihnen bei Amtsangelegenheiten unter die Arme, geben juristischen Rat und helfen, an einen Job zu kommen.
Pläne reifen im Smolny – langsam aber stetig
Nach den Plänen der Stadtregierung soll in den kommenden Jahren jeder Stadtteil eine solche Unterkunft bekommen, auch mit weit mehr Betten. Bis jetzt gibt es städtische Nachtasyle in Kronstadt, eines im Petrograder und ein weiteres im Zentral-Bezirk. Zudem gibt es Krisenzentren für Frauen, in denen Hilfesuchende unterkommen können.
Das ist ein neue Richtung in der Politik der Stadtregierung. Denn bisher war es eher so, wie Maxim Jegorow es kurz und bündig ausdrückt: „Eine Politik zur Obdachlosenproblematik gibt es nicht.“ Er ist Leiter der karitativen Organisation für Obdachlosenhilfe „Notschleshka“ (zu deutsch: Nachtasyl), die sich seit über zehn Jahren mit einer Obdachlosenunterkunft und Projekten, wie etwa der Obdachlosenzeitung „Na Dne“ („Am Boden“), in der Newa-Stadt engagiert.
Als die Organisation ihre Arbeit aufnahm, waren Obdachlose in St. Petersburg faktisch rechtslos. Die Gesetzgebung erschwerte noch die Notlage der Menschen ohne festen Wohnsitz (der so genannten „Bomshi“). Zum Beispiel verlor ein mit Gefängnis bestrafter Mensch seine amtliche Registrierung und damit das Recht auf seine Wohnung. So war 1994 für ein Drittel der Obdachlosen der primäre Grund des Wohnungsverlustes eine Freiheitsstrafe. Erst ein Jahr später änderte sich die Rechtslage.
Zu Beginn der 90er Jahre wurden viele Menschen auch durch kriminelle Machenschaften auf dem Immobilienmarkt um ihre Wohnungen gebracht – das betraf ebenfalls etwa ein Drittel. Knapp ein Fünftel rutschte aufgrund privater Probleme oder aus eigener Wahl in die Obdachlosigkeit.
Insofern ist Jegorow froh, dass sich etwas tut. „Die Unterkünfte sind auf jeden Fall eine Chance für die Betroffenen, ins normale Leben zurückzukehren“ – daran hat er keinen Zweifel. Problematisch ist jedoch wie so oft der Alkoholismus. Viele Obdachlose sind alkoholabhängig, betäuben ihre Probleme, was sie weiter nach unten zieht. Ob der Alkohol zur Obdachlosigkeit führte oder umgekehrt, ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei. „Fest steht, in den sechs Monaten im Nachtasyl muss man den Absprung schaffen.“
Wann die Pläne der Stadtregierung umgesetzt werden, kann auch er nicht sagen, schätzt aber, „dass es sicher zwei bis drei Jahre dauert, bis die weiteren geplanten Nachtasyle eingerichtet sind.“ Fraglich ist zudem noch, „ob die Bezirksadministrationen die Räumlichkeiten für diesen Zweck so einfach hergeben“. Schließlich bedeutet das beim derzeitigen Boom auf dem Immobilienmarkt bares Geld.
Fast 60.000 Obdachlose in Petersburg
1994 schätzte „Notschleshka“ die Zahl der Obdachlosen in St. Petersburg auf 54.000, von denen aber nur ein Bruchteil bei den städtischen Behörden registriert war. Zumal der erste „Städtische Anlaufpunkt zur Registrierung von Bürgern der Russischen Föderation ohne festen Wohnsitz“ in Petersburg erst 1998 gegründet wurde – was damals in Russland ein Novum darstellte. Mit angestoßen wurde diese Initiative des Stadtparlaments von „Notschleshka“.
Inzwischen haben 7.000 Menschen dort eine Akte. Sie können dort Passangelegenheiten klären, werden bei der Beantragung von Geldern, wie etwa der Rente, unterstützt und erhalten eine Versicherungspolice, die es ihnen erlaubt, auf Kosten der Stadt medizinisch behandelt zu werden. Alle diese Rechte können Obdachlose sonst kaum wahrnehmen.
Allen im „Städtischen Anlaufpunkt“ Registrierten ist indes gemein, dass sie vor ihrer Obdachlosigkeit schon in Petersburg wohnhaft waren. Nur in diesem Fall hat man dort Anspruch auf Hilfe. Denn: „Auf föderaler Ebene gibt es kein Gesetz, dass eine einheitliche Problemlösung anbietet. Daher wird dem Problem der Obdachlosigkeit in allen Städten unterschiedlich begegnet“, erklärt die Leiterin der Registrierungsstelle, Galina Dudarewa. Kommt jemand als Obdachloser woanders her, sieht es schlecht für ihn aus.
Für diese Hilfesuchenden bietet immerhin „Notschleshka“ noch einen Anlaufpunkt. Dort sind daher doppelt so viele Menschen registriert, die sich dank eines dort ausgestellten Papiers provisorisch als Obdachlose in St. Petersburg ausweisen können. Damit können sie eine minimale ärztliche Hilfe bekommen. Und „Notschleshka“ kann zugleich als Vertreter dieser Leute in der Politik auftreten und Rechte für sie einfordern.
Wohnungslos heißt nicht automatisch arbeitslos
Zwei Drittel aller ‚Bomshi’ sind im arbeitsfähigen Alter, zwischen 25 und 55 Jahren. Knapp die Hälfte aller Obdachlosen arbeitet auch regelmäßig oder von Zeit zu Zeit. Viele haben mehrere Jobs – meist illegal und daher schlecht bezahlt, wie etwa auf dem Bau oder auf Märkten.
Auch Juri Lagutin hatte immer mehr als eine Arbeit. Im Moment arbeitet er zwölf Stunden in der Woche als Tischtennistrainer und leitet zwei Gruppen, wo sich Schüler nach dem Unterricht treffen. Daneben hat er immer wieder Zweit- und Drittjobs und verdient so etwas mehr als 2000 Rubel (etwa 60 Euro) im Monat – das ist armselig, entspricht aber dem Durchschnittsgehalt eines russischen Lehrers.
Eine Wohnung auf dem freien Markt kann er sich trotzdem nicht leisten. „Wer Arbeit finden will, bekommt sie auch“, findet der 47-jährige, der um einiges älter aussieht. „An eine Wohnung zu kommen, ist aber soviel schwerer.“ In Wolgograd hat er 20 Jahre bei der Eisenbahn gearbeitet, konnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine Wohnung nicht halten, wurde obdachlos.
Warum sei er dann aber nach Petersburg gegangen? Juri braust auf, die Wut packt ihn. Hoch kommen die Gefühle des Festhängens in einer Sackgasse, aus der er immer wieder vergeblich versuchte, einen Ausweg zu finden. Briefe hat er geschrieben, an Abgeordnete, an Kommissionen. Diejenigen, die antworteten, versprachen zu helfen. Es geschah jedoch nichts. Und bei Anrufen oder Amtsbesuchen immer wieder dieselbe Frage: Warum auch sei er aus Wolgograd nach St. Petersburg gekommen?
Und empört – nicht, weil er schon wieder diese Frage hört, sondern, weil all diese Beamten die Antwort selbst kennen – sprudelt aus ihm heraus: „Auch jetzt noch, aber gerade in den schwierigen Jahren Anfang der 90er waren St. Petersburg und Moskau die einzigen Städte, die Hoffnung gaben, an etwas Geld zu kommen.“ Er entschied daher, lieber in Petersburg als in Wolgograd obdachlos zu sein. Weil er aber hierher kam, sei er an seiner Obdachlosigkeit selbst schuld – das gab man ihm nicht einmal zu verstehen.
Zugereiste Obdachlose – keiner fühlt sich zuständig
Das Dilemma, in das er nach seinem Weggang aus Wolgograd geriet, drehte sich darum, dass er als Zugereister in Petersburg nicht registriert war. Ohne Registrierung gibt es aber keine legale Arbeit. Und ohne Einkommen keine Wohnung. Ohne Wohnung keine Registrierung. Ein Kreislauf, aus dem auszubrechen fast unmöglich scheint. Vor drei Jahren war es ihm doch gelungen, offiziell Petersburger zu werden. Legale Arbeit hat er danach sofort gefunden, eine Wohnung aber nach wie vor nicht.
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im Internet |
• Webseite der Notschleshka (russdt.)
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„Wenn ich aus dem Nachtasyl wieder auf die Straße raus muss, dann weiß ich nicht, was ich machen soll“, sagt er. Dabei will er kein Mitleid, fühlt sich in der Gesellschaft einfach nur nicht richtig gebraucht. Die Arbeit als Tischtennistrainer liebt er genau deshalb so sehr. Erzählt er von den Kids, leuchten seine Augen. Doch sie kühlen sofort wieder ab, als er sagt: „Es ist unglaublich, aber wenn ein Lehrer nach dem Unterricht im Park schläft, dann ist das hier völlig normal.“
(mga/.rufo)
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