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30-07-2004 Neue Reportagen

Wie Saltos weg von der Straße führen

Kinderzirkus \"Upsala\" (foto: mga/rufo)Von Mandy Ganske, St. Petersburg. „Also Leute, da müssen noch mehr Emotionen kommen!“, ruft Larissa ihren Jungartisten nicht nur einmal zu. Sie ist Theaterregisseurin und sehr aufgeregt. Denn schon am Dienstag hat sie mit den Jungen und Mädchen vom Petersburger Straßenkinder-Zirkus „Upsala“ Premiere mit einem neuen Stück – „Wolken in mir“.


Larissa Afanasjewa ist voller Energie. Die künstlerische Leiterin des Kinderzirkus zeigt ihren Schützlingen die richtige Mimik und Gestik, läuft fortwährend hin und her und feuert sie an. Dann springen Stas, Maja, Kolja, Mischa und die anderen mit Saltos an ihr vorbei, proben das Finale des neuen Stückes. Musik von DDT erklingt und alle legen sich noch mal so richtig ins Zeug: im Sportsaal der Lernbehindertenschule Nr. 25 im Petrograder Bezirk gibt es ein kleines artistisches Feuerwerk.

Die Truppe gehört zum alten Kern von „Upsala“, einige sind von Anfang an dabei, andere etwas kürzer. Damals, vor vier Jahren, haben sich Astrid Schorn und Larissa Afanasjewa ein paar Jonglierbälle sowie ein Einrad unter den Arm geklempt und sind losgezogen – zu den Treffpunkten der Straßenkinderszene wie etwa am Ladozhski- oder Moskowski-Bahnhof. Ein paar Tricks vorgeführt und mit dem Einrad eine Runde gedreht, fragten sie, wer es von den Jungen und Mädchen selbst einmal ausprobieren will.

Die Reaktionen waren unterschiedlich und oft so schroff, wie es auf der Straße eben zugeht. Schimpfwörter flogen den beiden Frauen nicht selten um die Ohren, schlagfertig reagierten sie. Tatsächlich begeisterten sich dann viele Kinder recht schnell für die ungewöhnliche Einladung auf ein Zirkustraining und „Upsala“ nahm seinen Anfang. Was heute in der Schule in der Straße Bolshaja Selenina zu sehen ist, sind Resultate langjähriger Arbeit.

Für die nächste Szenenprobe erklärt Trainer Jaroslaw Mitrofanow den Jungs und Mädchen im Alter von 13 bis 18 Jahren noch einmal worauf es ankommt. „Es ist wichtig, dass ihr immer 100-prozentig dabei seid.“ Und mit einem dezenten Seitenblick auf Stas fügt er an: „Rummeckern bringt einen da auch nicht weiter.“

Generalprobe bevor es heißt: „Vorhang auf!“

Stas hat heute ein wenig Probleme mit den Handgelenken, es ist aber alles in Ordnung, nur etwas mürrisch hat es ihn gestimmt. Kurz darauf zeigt der 14-jährige, was er drauf hat, wirbelt mit Maja an der Hand über die Szenerie und setzt mit Kolja und Mischa zum synchronen Abschlusssalto an. Geschafft! Larissa ist für einen Augenblick zufrieden mit ihren Artisten: „Ok Rebjata, fünf Minuten Pause.“

Viel Disziplin braucht es, damit alles bis ins letzte Detail stimmt. „Wolken in mir“ wartet auf die Premiere. Am Dienstag, den 3. August, geht in der Uliza Sawushkina 83 um 19 Uhr der Vorhang auf. Der Eintritt ist frei.

Mit der Disziplin hatte man es zu Beginn von „Upsala“ indes nicht so genau genommen. Froh waren Astrid und Larissa, dass zum täglichen Training einige immer wieder kamen, andere ihre Freunde mitbrachten – und anstatt am Bahnhof Kleber zu schnüffeln und herumzustreunen, ihre Zeit bei „Upsala“ verbrachten.

Eine Szene aus dem neuen Stück „Wolken in mir“ (foto: kinderkulturkarawane.de) Das waren erste Erfolge für Astrid Schorn. Die SozialpädagogikStudentin kam aus Deutschland eigentlich nur für ein Praktikum in einem sozialen Kinderclub nach St. Petersburg, erkannte aber, dass sie mehr für die Straßenkinder tun will. Sie blieb, gründete den Zirkus mit der Hilfe von Larissa, den Brüdern Jaroslaw und Petja Mitrofanow und beendete neben der aufwendigen Projektarbeit ihr Studium in Deutschland. Dorthin fährt sie nun aber bald zurück. Deshalb hat Olga Rudnizkaja vor vier Monaten die Arbeit als Direktorin mitübernommen.

Inzwischen trainieren bei „Upsala“ etwa 50 Kinder und Jugendliche in fünf verschiedenen Gruppen – die jüngsten sind um die 9 Jahre alt. „Alle, die bei uns trainieren, haben einen Ort, an dem sie mehr oder weniger zu Hause sind.“, erklärt Olga. Denn nicht alle so genannten Straßenkinder leben völlig ohne ein Dach über dem Kopf. Viele sind so genannte „Tagesstraßenkinder“, das heißt, sie haben Probleme zu Hause oder einen Platz im Internat und streunen daher lieber den ganzen Tag draußen herum.

Kein Geld, Alkoholprobleme, Vernachlässigung

„Oft haben die Eltern Alkoholprobleme, kaum Geld und können sich nicht richtig um ihre Kinder kümmern“, erklärt Olga. „Dabei ist es nicht so, dass alle diese Väter und Mütter nicht wollen. Viele können nicht mehr, sind einfach völlig überfordert.“ Bei „Upsala“ arbeitet daher auch eine Sozialarbeiterin und eine Psychologin. Sie wollen den Familien der Zirkus-Kids helfen, gehen zu den Eltern nach Hause, wollen mit ihnen reden, verstehen, was den Alltag der Jungen und Mädchen und ihrer Familien ausmacht.

Wo man "Upsala" sehen kann
Die Premiere:
Das Stück

„Eine Mutter war zum Beispiel mit ihren vier Kindern allein“, erzählt Olga. „Sie arbeitete als Putzfrau, womit man nur sehr wenig Geld verdienen kann.“ Erst habe sie die Wohnung vernachlässigt, darauf sich selbst und dann die Kinder. Warmes Wasser hätte es schon lange nicht mehr gegeben, die Leitungen waren kaputt. Das Klo sei ein einziges Dreckloch gewesen – die Wohnung kein Ort, an dem man gern zu Hause ist.

„Upsala hatte einen Sponsor gefunden, um die Wohnung zu renovieren und die Leitungen zu reparieren“, berichtet Olga weiter. „Und als unsere Mitarbeiter die Mutter erneut besuchten, was war sie stolz, die Gäste in ihrer ordentlichen Küche zu empfangen.“ Ein kleiner Anstoß, den „Upsala“ geben konnte. Leider gelingt das nicht überall.

Jedoch: Viele Eltern kommen zu den Zirkusvorführungen, sind erstaunt und begeistert davon, was ihre Kinder alles können. Die Sprösslinge genießen den Beifall des Publikums, spüren den Erfolg bis ins Knochenmark. „Diese Erfahrungen sind wichtig“, so Olga. „Denn im normalen Leben hatten sie kaum eine Chance, sich derart selbst zu beweisen.“ Auf die Art erkennen sie, dass es sich lohnt, mit Disziplin und Geduld an sich zu arbeiten. Vor allem auch im Vergleich zu den anderen Kindern auf der Straße.

Die meisten der Jugendlichen, die bei „Upsala“ trainieren, gehen wieder regelmäßig zur Schule, zeigen bessere Lernerfolge, sind motivierter. Ihre gleichaltrigen Freunde, die auf der Straße blieben, leben meist noch im alten Trott.

im Internet
• Homepage des Straßenkinder-Zirkus

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Dabei steht „Upsala“ nach wie vor allen offen, die mitmachen wollen, obwohl es immer wieder Probleme gibt, die sich den Mitarbeitern in den Weg stellen – allen voran, eine Trainingsstätte zu finden. Schon über zehn Mal musste der Zirkus die Räume wechseln. „Unser Projekt ist einzigartig in Russland“, erklärt Larissa das Dilemma. „Unser pädagogischer Ansatz ist bei den Behörden nicht anerkannt.“

Es könne möglich sein, dass morgen alles dicht macht. „Bisher haben wir aber immer eine Lösung gefunden“, sagt sie überzeugt. „Wenn es hart auf hart kommt, trainieren wir auch vorübergehend im Park!“ Denn das Wichtigste ist, dass die Kids mit „Upsala“ immer einen Ort haben, an dem sie warm aufgenommen werden – egal, wo sich die Trainingsräume befinden.
(mga/.rufo)

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