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29-03-2004 Neue Reportagen |
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‚AufBruch’ probt im Moskauer Jugendgefängnis
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Von Stephanie Prochnow, Moskau. „Ich bin gekommen, euch zu befreien“, erklärt Lanzelot, alias Alexej mit feierlicher Stimme. Ein dreifaches Hurra schallt ihm entgegen. Doch überzeugend wirken die Hochrufe nicht. „Stop!“ Regisseur Peter Atanassow springt von seinem Sitz auf und unterbricht die Szene.
„Das muss von Anfang an mit viel mehr Lebensfreude rüberkommen“, ruft er. „Stellt euch vor, ihr wart im Gefängnis und seid jetzt frei.“ Neben Peter steht eine Dolmetscherin und übersetzt die Regieanweisung ins Russische. Die 15 bis 19jährigen Jungen dürften diese Anleitung sehr gut nachvollziehen können. Einige von ihnen müssen mehr als sechs Jahre in dem Jugendgefängnis von Nowogrischino absitzen, das circa eine Stunde von Moskau entfernt liegt.
Für 20 der über 300 Insassen hat sich der Alltag in den vergangenen neun Wochen stark verändert. Zwar gehen sie weiter jeden Vormittag in die Gefängniswerkstätten, um handwerkliche Berufe zu erlernen. Aber Nachmittags fällt die Schule aus. Statt Mathematik, Literatur oder Musikunterricht stehen Proben für die Aufführung des Märchens ‚Der Drache’ von Jewgenij Schwarz auf dem Programm.
Grund sind die Berliner Tage in Moskau, in dessen Rahmen das Regieteam ‚AufBruch’ eingeladen wurde, ein Projekt in dem Jugendknast durchzuführen. Seit 1997 erarbeiten die fünf jungen Leute in wechselnder Besetzung regelmäßig Aufführungen mit den Häftlingen des Gefängnis in Berlin Tegel.
Im russischen Jugendknast ist vieles anders: „Hier scheint alles so zu sein, wie es immer gelaufen ist“, gibt Produktionsleiterin Sibylle Arndt ihre Eindrücke wieder. Bezeichnend ist das Dserschinskij-Denkmal in der Mitte des Hofes zwischen den zweistöckigen Wohngebäuden und der Schule. Das Monument des gefürchteten Geheimdienstchefs sei nur noch eine „Reliquie, die man nicht anrührt“, erklärt ein Wächter.
Andere Werte, die den Jugendlichen hier vermittelt werden, kommen im Inneren der Wohntrakte zum Vorschein: In jedem Flur ist ein Gebetsraum eingerichtet, in dem die Wände über und über mit Ikonen bedeckt sind. Direkt daneben liegen die Schlafsäle für ungefähr 30 bis 80 Leute. Wäre nicht an jedem Bett ein Namensschild mit der Zahl der abzusitzenden Jahre befestigt – es entstünde der Eindruck einer heruntergekommenen Jugendherberge.
Die Räume halten die Jugendlichen sauber. Aufräumen, putzen, waschen: alles wird selber organisiert. Dafür, dass es läuft, sorgen einige ‚Aktive’, die von den Insassen gewählt und von der Gefängnisleitung mit besonderer Autorität ausgestattetet wurden.
Diese interne Hierarchie war für das AufBruch-Team anfangs außer der Sprachbarriere das größte Hindernis. „Während der Proben müssen sich die Chefs zurücknehmen. Sie dürfen nicht die Jüngeren anschnauzen, wenn die unruhig sind“, sagt Regisseur Peter. Sonst könnte sich keiner richtig aufs Theaterspielen konzentrieren und außerdem sei manchmal gerade das Chaos kreativ. „Wenn ich aber einem von den Chefs sage: ‚Geh mit den Jüngeren proben!’, brauche ich seine Autorität wieder“, erläutert Peter das permanente Machtspiel.
Für ihn ist es vor allem wichtig, dass die Jungs lockerer werden und ein bewussteres Verhältnis zu ihrem Körper entwickeln. Deshalb stehen am Anfang jeder Probe Partnerübungen und Improvisation. Erst nach einer Pause geht es an die Text- und Figurenarbeit.
Breitbeinig steht Peter in der Mitte des Raumes und beginnt mit den Armen zu rudern. Die im Kreis um ihn herum gruppierten Jungen machen jede Bewegung nach. Sie tragen dunkelblaue, abgewetzte Hosen, Anoraks und Mützen in der gleichen Farbe. Es ist eiskalt in dem Raum. Ein leer stehender, renovierungsbedürftiger Schlafsaal in einem Nebengebäude kam als einziger Platz für die Proben in Frage. Die Fenster sind nur notdürftig mit Decken und Folie abgedichtet. Die Farbe bröckelt von den Wänden. Ständig müssen die Jugendlichen in Bewegung bleiben, um nicht zu frieren.
„Über den Körper kommst du an sie ran. Ihre Gedanken sind kontrolliert. Das aufzubrechen ist sehr schwer und langwierig“, weiß Peter. Wenn er mit der Gruppe über das Theaterstück diskutiert, kommen meistens nur stereotype Antworten. „Die Jungs sind sehr kontrolliert, in dem, was sie aussagen“. Ihre Devise lautet: Sich zurücknehmen, überleben und Zeit absitzen, um bald entlassen zu werden.
Mit ihrem Projekt hoffen die AufBruch-Leute die Teenager zu erreichen und sie mit neuen Gedanken zu konfrontieren. „Anfangs dachte ich: so ein Blödsinn“, erzählt Alexej, der den Lanzelot spielt. „Aber es ist toll! Das ist mein erstes richtiges Theaterstück und ich habe gleich die Hauptrolle bekommen.“
Sibylle weiß aus Erfahrung, dass die Jungen zuerst nicht bewusst über das Stück reflektieren, sondern wie Alex ganz schlichte Gründe haben, mitzuspielen. Für viele ist der ungewohnte Freiraum verlockend, den die Proben bieten. „Im Laufe der Arbeit kriegen sie mit: ‚Oh, das sind ja Texte, die mich etwas angehen.’ Und dann merken sie, dass sie beim Theaterspiel plötzlich über Sachen nachdenken, die sie sonst nie beschäftigen. Und plötzlich kriegt das, was sie denken und fühlen eine öffentliche Aufmerksamkeit“, erklärt die Produktionsleiterin.
Für das Märchen von Jewgenij Schwarz hat sich das Regieteam ganz bewusst entschieden. Dort herrscht eine Welt, die sich klar in schwarz und weiß teilt. „Wenn man das Stück genauer liest, sieht man, dass Gut und Böse einander bedingen und das sie von gesellschaftlichen Normen abhängen. Dieses Thema kann man mit den Jungs besprechen“, erklärt Peter. Schließlich hätten die Jungen eine Grenze überschritten und seien durch Belohnung und Bestrafung direkt mit dieser Thematik konfrontiert worden.
Die Lebenserfahrungen ihrer Schauspieler sind das wesentliche Potential der Aufführung. Diese spezifische Theaterform nährt sich weniger aus der künstlerischen Brillanz der Darsteller als aus ihren Erlebnissen. „Was uns interessiert ist speziell die persönliche Sicht. Der Schauspieler reflektiert. Der Laie ist purer“, erklärt Peter.
„Ich lass euch alle einsperren“, brüllt Genadij, der den bösen Bürgermeister spielt. Sein Fluchen klingt schon sehr authentisch. Umringt von dem Chor der Gefangenen steht der junge Mann vor der Bühne des Kulturhauses von Nowogrischino. In dem Saal mit der billigen Holzverkleidung und den alten Goldvorhängen darf die Gruppe in den letzten Tagen vor der Premiere proben, um sich an das Ambiente zu gewöhnen. Von der Dekoration stehen bereits einige Spiegelwände und ein Holzgerüst.
An der linken Ecke der Bühne lehnt ein Aufseher und betrachtet das Spektakel gelangweilt. Gerade resümiert Lanzelot über die Freiheit des Menschen, selber Entscheidungen zu treffen, als schwere Schritte durch den Saal hallen. „Schluss!“, ruft ein Wächter. Eigentlich hätte die Probe noch eine Viertelstunde dauern sollen. Während sich die Jungen zu Zweierreihen zusammenstellen, beratschlagen die Theaterleute ärgerlich. „Ich muss hinterher, um noch die Nachbesprechung zu machen“, ruft Peter hektisch. In der Ferne verschwinden die im Gleichschritt marschierenden Jungen gerade hinter dem graugrünen Metalltor des Gefängnisses. |
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