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Es gibt immer etwas zu erzählen (Foto: .rufo)
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Dienstag, 29.03.2005

Russlands Großmütter: Der Mythos Babuschka

Von Karsten Packeiser, Moskau. Babuschka könnte schon lange in Rente sein, fährt aber weiter jeden Tag zur Arbeit und schuftet am Wochenende auf den Gemüsebeeten vor der Datscha. Sie drängelt sich rücksichtslos in die Straßenbahn und jagt junge Frauen aus der Kirche, die in Jeanshose zum orthodoxen Gottesdienst erschienen. Sie protestiert gegen die ungerechte Sozialreform, während ihre Kinder vor dem Fernseher sitzen. Sie ist der Rettungsanker für Millionen russischer Familien und wird von ihren Enkeln abgöttisch geliebt und verehrt.

Eigentlich ist das Wort „Babuschka“ eine Verniedlichungsform und müsste wörtlich als „Großmütterchen“ übersetzt werden. Mit dem Begriff wird nicht nur die leibliche Großmutter, sondern auch jede andere betagte Frau auf der Strasse bezeichnet. Ohne Babuschkas wäre Russland undenkbar, und wahrscheinlich würde so gut wie nichts in dem Riesenland funktionieren.

Bei Babuschka war alles erlaubt

„Meine Babuschka – das war Verwöhntwerden ohne Ende: Süßigkeiten, Marmelade, Kuchen“, erinnert sich die Psychologin Jelena Radtschenko. „Was bei meiner Mutter verboten war, war bei Babuschka erlaubt.“ Dass die Großmutter für viele russische Kinder Mittelpunkt ihrer kleinen Welt ist, hat seinen Grund.

(Foto: Djatschkow/.rufo)
(Foto: Djatschkow/.rufo)
Noch immer spielt sie bei der Erziehung der Enkel oft eine ganz zentrale Rolle, denn einen langen Mutterschaftsurlaub kann sich kaum eine Familie leisten. Außerdem gab es zumindest seit der Oktoberrevolution immer einen großen Prozentsatz alleinerziehender Mütter in Russland. Die emotionale Bindung der Enkel an ihre Babuschka geht so weit, dass viele Jungen und Mädchen im Vorschulalter sowohl ihre Mutter, als die Großmutter mit „Mama“ anreden.

In Radtschenkos Firma in Moskau arbeitet zurzeit eine Frau aus Sibirien, die ihr Kind mehrere tausend Kilometer entfernt bei den Großeltern aufziehen lässt. Eine andere Kollegin zog aus Kasachstan nach Moskau und nahm ihre Mutter mit in die russische Hauptstadt, damit die sich um den Nachwuchs kümmert. „Das Kind ist die letzte Puppe einer Russin und der Enkel das erste Kind“, bringt ein russisches Sprichwort die Beziehungen zwischen den Generationen auf den Punkt.

Mehr Verantwortung für die alt gewordenen Eltern

Im Gegenzug kann sich auch die Babuschka meist darauf verlassen, dass ihre Kinder sie im Notfall unterstützen werden. Die staatliche Krankenversicherung garantiert längst nur noch eine klägliche kostenlose Minimalversorgung. Es ist üblich, dass Angehörige sogar das Essen für ihre kranken Familienmitglieder ins Krankenhaus bringen.

(Foto: Djatschkow/.rufo)
(Foto: Djatschkow/.rufo)
„In Russland fühlen sich die Menschen viel mehr verantwortlich für ihre Eltern“, meint Gregor Sonderegger, der ehemalige Moskau-Korrespondent des Schweizer Fernsehens. „Bei uns überlassen sie das dem Staat, die Eltern ziehen ins Seniorenheim, wo sie an Weihnachten oder zum Geburtstag
besucht werden.“

Land der Witwen

In keinem anderen Industriestaat der Erde gibt es einen so grossen Unterschied zwischen der Lebenserwartung von Männern und Frauen wie in Russland. Während Frauen im Durchschnitt annähernd so alt werden, wie in anderen Ländern Europas, erlebt ein russischer Mann im Durchschnitt nicht einmal seine Pensionierung. Alkoholismus, viele Arbeitsunfälle und die allgemein miserable Gesundheitsversorgung machen viele Frauen schon früh zu Witwen.

Doch von einem geruhsamen Lebensabend können auch die allermeisten älteren Frauen nur träumen. Bei monatlichen Durchschnittsrenten von unter 80 Euro sind sie dazu gezwungen, auch nach dem Erreichen des Rentenalters weiterzuarbeiten. Mitunter ist es auch schlichter Enthusiasmus, der miserabel bezahlte Ärztinnen und Lehrerinnen dazu bewegt, sich auch im betagten Alter noch nicht zur Ruhe zu setzen. Die gut gelaunten Reisegruppen westlicher Senioren, die den Roten Platz oder die pompösen Moskauer Metro-Stationen besichtigen, müssen den meisten russischen Rentnerinnen angesichts der eigenen bescheidenen Lebensverhältnisse wie Außerirdische erscheinen.

Viele russische Rentnerinnen halten sich mit Kleinhandel über Wasser (Foto: Djatschkow/.rufo)
Viele russische Rentnerinnen halten sich mit Kleinhandel über Wasser (Foto: Djatschkow/.rufo)
Eigene vier Wände werden immer wichtiger

Auch in Russland ändert sich jedoch die traditionelle Rolle der Großmutter. „Unsere Studien belegen, dass seit dem Zerfall der Sowjetunion russische Babuschkas im Schnitt nur noch unwesentlich mehr Zeit mit ihren Enkeln verbringen als Omas in anderen europäischen Ländern“, sagt die Familienforscherin Olga Sdrawomyslowa von der Moskauer Gorbatschow-Stiftung.

Das habe zum einen damit zu tun, dass immer mehr Frauen auch im Rentenalter weiter berufstätig blieben. Aber auch die Zahl der Familien, in der drei Generationen – oft auf engstem Raum – in einer Etagenwohnung zusammenleben, sei im Abnehmen begriffen. Zu kommunistischen Zeiten war es in der Sowjetunion normal, dass verheiratete Ehepaare mit den Eltern von Braut oder Bräutigam zusammmenlebten, denn im Land fehlten Millionen Wohnungen.

Die eigenen vier Wände sind für die jüngere Generation inzwischen ein ganz zentrales Ziel bei der Lebensplanung geworden. „Diese Leute sind andererseits mental schon besser darauf vorbereitet, dass sie selbst im Alter allein sein werden“, meint die Soziologin Sdrawomyslowa. Der Mythos von der Babuschka als zentralem Mitglied der russischen Familie habe oft nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun.

Babuschkas als Eckpfeiler der Zivilgesellschaft

Mag die Rolle der Babuschka bei der Kindererziehung sinken, gesellschaftlich bleiben die Rentnerinnen eine der aktivesten Bevölkerungsgruppen. Während die Generation ihrer Kinder sich oft überhaupt nicht mehr für politische Ereignisse interessiert, gehen die Grossmütter regelmässig wählen.

So ist es auch kein Wunder, dass vor allem Rentnerinnen und Rentner zum Jahresbeginn in ganz Russland gegen das Anlaufen einer umfassenden Sozialreform protestierten, die bei weitem nicht nur sie betrifft. Auf den blockierten Straßen entstehe eine echte russische Bürgergesellschaft, freut sich der Moskauer Gewerkschafter Sergej Chramow. „Endlich hat unser Volk begriffen, dass es gewinnen kann, wenn es auf die Straße geht“, sagt er. Das wäre, wenn es stimmt, zu einem erheblichen Teil ein weiteres Verdienst der Babuschka.

Bei Russland-Aktuell
• Neue Demos für und gegen Sozialreform in Russland (14.02.2005)
• Rentner demonstrieren weiter, Regierung gibt nach (17.01.2005)
• NS-Opfer: Vergeblich auf Entschädigung gehofft (24.2.2005)
• TACIS: Neue Zähne für Alte an der Wolga (8.9.2004)
• Russen entwickeln Hirntrainer fürs Alter (26.9.2003)
In Russland, einem Land mit einer ohnehin matriarchalen Gesellschaft, misfällt manchen jüngeren Menschen die vermeintliche Allmacht der vielen Babuschkas um sie herum: „Im Winter müssen Sie sich von den Mütterchen belehren lassen, dass Sie keine Mütze auf dem Kopf tragen oder dass Ihr Mantel nicht warm genug ist“, ereiferte sich der britische „Guardian“ in einem Artikel über die russische Babuschka, „im Sommer fürchten sie, dass Ihr Kind sich erkälten könnte, wenn bei 35 Grad Hitze irgendein Körperteil nicht mit Kleidung bedeckt ist. Im Frühling und im Herbst machen sie sich Sorgen über alles andere.“ Auch das gut gemeinte, aber penetrante Belehren aller Jüngeren ist Teil des „Mythos’ Babuschka“.

(kp/.rufo)


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