St. Petersburg. Wie beliebt das Haus des Buches am Newski Prospekt/Ecke Gribojedow-Kanal bei den Petersburgern ist, beweisen ganz anschaulich die tief ausgetretenen Marmorstufen auf der Treppe in den ersten Stock. Sie bezeugen ebenfalls, dass das ehemalige Kontorgebäude der Nähmaschinenfirma „Singer“ dringend auffrischungsbedürftig ist. Der Buchhandel räumt zu diesem Zweck den Platz und zieht den Prospekt aufwärts ins Haus Nr. 62. Die Jahrzehnte währende, fast legendäre Tradition von Buch- und Verlagswesen an dieser Stelle geht damit zu Ende.
Für Eingeweihte ist das Geschehen keine Überraschung – seit das Haus des Buches 1998 zum Untermieter einer privaten Immobilienfirma wurde, die das Gebäude am Newski 28 wiederum von der Stadt in Pacht nahm, war das Aus für den Buchhandel an diesem Ort nur noch eine Frage der Zeit.
Vor fünf Jahren hatten sich einflussreiche Verteidiger der Kultur noch stark gemacht für das Wissens-Bollwerk. Heute ist die Situation jedoch eine ganz andere. Einerseits fehlt der öffentliche Protest – es ist ja längst gang und gäbe, dass angestammte, aus Sowjetzeiten vertraute Geschäfte und Institutionen den kapitalistischen Spielregeln weichen müssen. Sich darüber aufzuregen, hieße gegen Windmühlen anzukämpfen.
Andererseits haben sich auch die Bedingungen für das Haus des Buches erheblich gewandelt. Nach Angaben der Tageszeitung „Delowoj Peterburg“ verfügt der größte Buchhändler Petersburgs inzwischen über eine Kette von sieben Geschäften und sieht der Bereitstellung von weiteren sechs Ladenlokalen entgegen. Das 1902-1904 für die amerikanische Nähmaschinenfirma „Singer“ errichtete Meisterwerk des „Nordischen Jugendstils“ gegenüber der Kasaner Kathedrale ist für ihn somit kein Nonplusultra mehr.
Das Haus des Buches zieht in das Haus Nr. 62 am Newski Prospekt, das zur Zeit von der Konfektionsfirma „Plato“ belegt wird. Juristisch nehmen die beiden Unternehmen einen Tausch vor. Die Führung des Kleiderladens macht jedoch kein Geheimnis daraus, dass sie in das kuppelgekrönte Haus am Kanal gar nicht erst einziehen wird, sondern den Handel von Petersburgs Hauptstraße weg in Richtung der Metrostation „Akademitscheskaja“ verlegt.
Der Vertrag sieht zwar die Rückkehr des Buch-Hauses nach Abschluss der auf drei Jahre prognostizierten Restaurierungsarbeiten vor, aber alle Beteiligten wissen genau, dass dies nicht mehr als eine schöne Trost-Floskel in dem Vertrag ist. Bis heute zahlte das Haus des Buches nur 20 Prozent des Mietzinses für die rund 4000 Quadratmeter genutzter Fläche. Nach der Erneuerung des Gebäudes fallen alle Vergünstigungen weg; dann wird der Luxus, an einer der exponiertesten Stellen der Petersburger Innenstadt mit Büchern zu handeln, nicht mehr zu bezahlen sein.
Die Petersburger müssen sich wohl damit abfinden, einer ganzen Epoche Lebewohl zu sagen. Am Newski 28 hatten seit 1919 nicht nur die Bücher regiert, hier waren auch die meisten wichtigen Verlage konzentriert gewesen. Auf der Suche nach dem Wissen, dass in der Sowjetunion nicht selten ebenfalls zu den difizitären Waren zählte, sind mehrere Generationen Leningrader und Petersburger durch das graue Haus am Newski gewandelt. Kein Wunder, dass die Stufen so ausgetreten sind...
(sb/.rufo) |