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Von den Höhen der Macht ins Gefängnis gestürzt: Julia Timoschenko (Foto: TV) |
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Montag, 30.04.2012
Fall Timoschenko: Der Fussballfan wird nicht gefragtThomas Fasbender, Moskau. Und wieder wird der Sport zum Spielball der Politik. Die politische Klasse gibt sich in heller Aufregung, die Medien sorgen für den Trommelwirbel. Viele Leitartikler fordern einen EU-Boykott.
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Der Bundespräsident reist nicht zu einem Treffen mittel- und osteuropäischer Staatsoberhäupter im Vorfeld der EM auf der Krim. Seine Anwesenheit während des Turniers wird offiziell in Frage gestellt.
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Der Druck auf die Kanzlerin ist hoch, bei den Spielen der deutschen Nationalmannschaft in der Ukraine, vielleicht gar beim Endspiel in Kiew, durch Abwesenheit zu glänzen. Am Wochenende erwog die Kanzlerin schon einen politischen Boykott.
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Dabei war das Turnier von Anfang an ein Politikum. Der 2003 erdachte Plan einer Zwei-Länder-EM in Polen und der Ukraine war aus westlicher Sicht genial. Der polnische EU-Beitritt stand unmittelbar bevor, und gab es ein besseres Signal für die Zukunft der Ukraine als ein gemeinsames Turnier mit dem slawischen Nachbarn im Westen?
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Der langjährige ukrainische Präsident Leonid Kutschma, den meisten aufgrund einer nie endgültig bewiesenen Verwicklung in einen Journalistenmord im Gedächtnis, ließ sich darauf ein, und er wusste sein Spiel zu spielen. Ihm war klar, dass er die geographische Lage der Ukraine in baren Nutzen für sein Land verwandeln konnte.
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Schließlich war 2001 mit den US-Republikanern in das Weiße Haus auch das klassische Feindbild der Konservativen in die US-Außenpolitik zurückgekehrt: Russland.
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Containment nennen sie das jenseits des Atlantiks die Einschnürung Russlands durch Nachbarn, die dem Westen gefällig sind. Die Ukraine spielt eine Schlüsselrolle im Rahmen dieser Strategie.
Und dann kam es, wenige Monate vor der Turniervergabe, zur orangen Revolution. Ein innerer Reichsparteitag für die Strategen auf beiden Seiten des Atlantiks. Kein halbseidener, durchtriebener Kutschma mehr, dafür Viktor Juschtschenko, ein Chaot zwar, aber auch ein Giftopfer und PR-Hit. Und erst seine Steuerfrau, Julia Timoschenko, Femme Fatale und Blondzopf in Einem, zwei Demokraten wie aus der Retorte.
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Das EM-Turnier, so die Träume jener Strategen, würde zum Siegel für die baldige Integration der Ukraine in NATO und EU.
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Für Russland ein Albtraum. Amerikanische PRO-Raketen, angeblich zur Abwehr terroristischer Angriffe installiert, keine hundert Kilometer vor Brjansk, Kursk und Belgorod, das rührte an schlimmste Erinnerungen.
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Völker haben ein Recht, sich auf ihre historischen Erfahrungen zu besinnen. Weißrussland und die Ukraine bilden seit alters her das Glacis des russischen Herzlandes. Keiner Macht der Welt wird der Kreml erlauben, sich dort einzunisten.
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Die Kür des pro-russischen Kandidaten Viktor Janukowitsch, Kutschmas einstmaligen Premierministers, zum ukrainischen Präsidenten Anfang 2010 war auch der Erfolg der russischen Gegenoffensive. Janukowitsch ist alles andere als russlandhörig, aber er sichert die Neutralität seines Landes im untergründig schwelenden Ost-West-Konflikt.
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Noch ist offen, wie weit er in der Causa Timoschenko den Konflikt mit Westeuropa riskiert.
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Der Verlierer ist der Fussballfan. Er wird auch im demokratischen Deutschland nicht gefragt. Es gibt nicht einmal eine Urabstimmung unter den fast sieben Millionen DFB-Mitgliedern. Die Entscheidungen fällen andere.
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Dabei ist es den meisten schnurzwurst, ob der Präsident oder die Kanzlerin in der Ehrenloge sitzt. Wir wollen schöne Spiele sehen, kurze und lange Pässe, und Tore. Aber keine Politiker, die uns sagen, dass aus diesem Grunde Turniere sein müssen und aus jenem Grunde nicht sein dürfen.
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Russische Übersetzungen >>>
Thomas Fasbender lebt seit 1992 in Moskau und ist mit regelmäßigen Kommentaren auf Russland Aktuell präsent.
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Baumfreundin 05.05.2012 - 23:47
Wenn unsere Politiker (EU ) konsequent sind,
dann werden sie in Zukunft wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit nicht mehr in die USA und Israel fliegen ( Grpnde sind Folter, und Verhaftung ohne Anklage usw. )
Übrigens was ist mit den Foltergefängnissen des CIA in Polen (EU- Land) ?
B.K. 05.05.2012 - 19:33
Timoschenko
Wenn die gleichen Politiker, die jetzt ein Geschrei wegen dieser Timoschenko machen, richtig handeln würden, bräuchte man keinen Druck über die sportliche Seite zu machen. Alles andere ist Erpressung.
JohannGmelin 02.05.2012 - 21:29
Wäre Präsident...
Janukowitsch so ein \"sauberer US-Freundlicher Demokrat\" wie Saakaschwili in Georgien, hätte die Ukraine das Problem nicht.
J. W. 02.05.2012 - 13:59
Timoschenko
wird als Unschuldslamm und Demokratin bezeichnet; aber wo bleibt die jüngste Vergangenheit?
So ist Ihr Aufstieg doch zumindest äußerts fragwürdig; was jedoch nicht den Strafvollzug in der Ukraine entschuldigen soll. J.W.
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