Von Daniel Stähle, St. Petersburg/Walaam. Mit einem milden Lächeln gewährt der Kapitän der in die Jahre gekommenen Pilgerin freie Fahrt. Zwar haben sich gewiefte Geschäftsleute im Petersburger Hafen längst an die Dollar der wohlhabenden Besucher spezialisiert. Doch das Ziel der Reise bewegt das Schiffspersonal zu ungewöhnlicher Güte: Die Inselgruppe Walaam im nördlichen Teil des Ladogasees ist seit Jahrhunderten Pilgerort für Orthodoxe aus ganz Russland und wurde erst vor einigen Jahren touristisch erschlossen.
Die Inselwelt bietet neben den beeindruckenden Klosteranlagen und der jahrhundertealten Glaubenstradition eine einzigartige, beinahe unberührte Natur- und Artenvielfalt.
Während das Schiff, langsam dem Flussverlauf der Newa folgend, durch die lauen weißen Nächte des russischen Sommers gleitet, herrscht auf Deck bei Discomusik und Unterhaltungsprogramm eine ausgelassene Stimmung. Die Pilgerin Natascha W. (66) wird dagegen auf einem Sofa im Gemeinschaftsraum die Nacht verbringen. Der Fahrpreis ist doppelt so hoch wie ihre karge Rente.
Doch nicht nur die soziale Kluft zwischen den Passagieren, sondern auch die Motive ihrer Reise unterscheiden sich gänzlich. Während die einen auf Erholung hoffen und sich auf die Spuren der Klostertraditionen begeben, wird Natascha einige Tage auf der Insel verbringen und den Abt des Klosters um seinen Segen bitten:„Walaam gibt mir Kraft. Es gibt Orte auf dieser Welt, die speziell dazu bestimmt sind, Gott zu dienen und auf denen es möglich ist, eine Einheit mit Gottes Schöpfung zu spüren“, betont sie mit einem warmen Leuchten in den Augen und gibt damit eine der häufigsten Charakterisierungen der Inselgruppe wider.
Karge Unterkunft für Pilger
Noch vor vier Uhr ertönt die gewaltige Glocke des Klosters. In der Morgendämmerung begeben sich Pilger und Mönche zur gemeinsamen Morgenliturgie. Streng sind die Gebetszeiten, schlicht und karg sind Verpflegung und Unterkunft. Während des Tages verrichten die Pilger gemeinnützige Arbeit in den Klostergärten oder in der Küche. Dafür erhalten sie eine Liege in einem Gemeinschaftsraum und zwei warme Mahlzeiten.
Die Sonne steht hoch und das Unkraut sprießt. In den idyllischen Klostergärten arbeitet Ana Kuusela. Die 34-jährige Finnin ist für drei Wochen als Pilgerin gekommen. Die Hauswirtschaftslehrerin hat sich ausgiebig mit dem orthodoxen Glauben beschäftigt und möchte mehr darüber erfahren. „Ich befinde mich auf der Suche, die orthodoxe Kirche hat für mich eine mystische Faszination“, sagt sie. Zum orthodoxen Glauben überzutreten, kann sie sich allerdings nicht vorstellen. „Die Kirche ist für mich in einigen Fragen einfach nicht zeitgemäß“.
Nicht von dieser Welt
Otez (Vater) Mefodij erhebt sein Weinglas und spricht einen Toast auf die „neuen Zeiten“. Der gebürtige Mazedonier ist als stellvertretender Abt für den Besucherempfang zuständig. Er ist vor 14 Jahren nach Walaam gekommen und hat den gesamten Wiederaufbau des Klosters nach den „schrecklichen Zeiten des Sozialismus“ miterlebt. Der gelernte Bauingenieur entschied sich am Totenbett seines Großvaters, dem weltlichen Leben zu entsagen. Der eindrucksvolle abgedunkelte Empfangssaal des Klosters und die geschmeidigen, ehrfurchtsvollen Bewegungen des Abtes erinnern an die Ästhetik, die orthodoxe Gottesdienste ausstrahlen.
Mit weicher, ruhiger Stimme spricht er über die zahlreichen Touristen, unter deren Anwesenheit vor allem die Konzentration der Mönche leidet. Trotz der negativen Umstände hofft er, dass alle Menschen, die auf die Insel kommen, - Pilger sowie Touristen -, „eine spirituelle Erfahrung mit sich nehmen“.
„Walaam war nie ein Ort für weltliche Menschen“, sagt Mefodij und rechtfertigt damit die Aussiedlungspolitik, die das Kloster gegenüber den Bewohnern der Insel betreibt. Die ersten 60 Familien werden in Kürze die Insel verlassen und eine von „großzügigen Spendern“ finanzierte Siedlung auf dem Festland beziehen. Viele der rund 200 „weltlichen Menschen“ besetzen nach Mefodijs Angaben illegal Wohnungen und Gebäude, die der Bruderschaft gehören. So versucht das Kloster das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die vorrevolutionären Verhältnisse wieder herzustellen.
Da Walaam 1918 in finnischen Besitz überging, wurde das Kloster bis 1940 von der kommunistischen Kirchen-Verfolgung bewahrt. Doch schon in den ersten Tagen des zweiten Weltkrieges flohen die Mönche und die Insel wurde von der roten Armee eingenommen. Unter der Herrschaft der Sowjets diente sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Marinestützpunkt, Behausung für Kriegsinvaliden und später als Erholungsgebiet. Viele der jahrhundertealten Bauwerke wurden ihrem Zweck enteignet und dienten als Werkstätten, Warenlager oder gar als Pferdestall.
Die meisten der heutigen Inselbewohner sind Nachkommen der Kriegsinvaliden. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie trotz erheblicher gesundheitlicher Beschwerden, auf der Insel sich selbst überlassen. Das Verhältnis zu den Einheimischen beschreibt Mefodij als sehr gut. So unterstützt das Kloster die kleine Inselschule. In einer gemeinsamen Initiative mit dem Direktor der Schule ist die Einrichtung eines Kulturzentrums geplant.
Entbehrung und Klausur
Doch vor allem in den kalten Wintermonaten zeigt sich die wahre Bestimmung der Insel. Rund 300 Kilometer nördlich von St. Petersburg präsentiert sich der russische Winter von seiner rausten und kältesten Seite. Schon im Herbst ist die Insel oftmals wegen des wilden Seegangs vom Festland abgeschnitten. Wenn im tiefen Winter der Ladogasee gefriert, bleibt der Luftweg als einzige Alternative, Kontakt zum Land zu halten.
Trotz der für Russland überdurchschnittlichen Bezahlung im Tourismusbereich oder für Arbeiten im Kloster, bewegt die Abgeschiedenheit viele Bewohner zum Gehen. „Die meisten Schulabgänger entscheiden sich für eine weiter führende Schulbildung auf dem Festland. Nur wenige bleiben hier oder kommen später zurück. „Vor allem für junge Menschen ist das Leben nicht einfach“, sagt der Direktor der Schule Wladimir Schischkin und lächelt, da ein erneuter Stromausfall das Aufkochen des Teewassers verhindert.
Doch eben diese Einsamkeit zog im 11. Jahrhundert die ersten Mönche nach Walaam. Die genaue Zeit der Besiedlung lässt sich heutzutage nicht mehr feststellen, da im Verlauf der folgenden Jahrhunderte die Insel mehrmals im Zentrum kriegerischer Konflikte stand. Oftmals brannten die Klostergebäude bis auf die Grundmauern nieder. Die Geschichte des „nördlichen Athos“ ist von einem ständigen Auf und Ab gezeichnet.
Obwohl das Kloster zwischenzeitlich großen Reichtum und Einfluss erlangte, warfen Kriege und Hungersnöte es immer wieder in seiner Entwicklung zurück. Zu ihren besten Zeiten des Klosters beherbergte die Insel mehr als 1500 Mönche, die sich auf das Kloster und zahlreiche Einsiedeleien verteilten. Heute leben 120 Mönche und Novizen auf Walaam. Nach einem rapiden Anstieg in den ersten zehn Jahren nach der Wiederbelebung durch die Perestroika, blieb die Zahl konstant.
„Die ersten vierzig Jahre sind für die Mönche hart, dann kommt der Tod“, sagt Mefodij trocken und scheint sich köstlich über den „alten Mönchswitz“, zu amüsieren. „Der orthodoxe Glaube erfordert viel Fleiß und harte Arbeit an sich selbst. Man muss sich viele entscheidende Fragen beantworten und Skepsis und Zweifel überwinden“, fügt er hinzu.
Neue Zeiten
Mittlerweile sind die meisten Einsiedeleien und ungefähr die Hälfte der Klostergebäude wieder in Stand gesetzt. Doch die kostenintensiven Renovierungsarbeiten laufen auf Hochtouren. Schon in Kürze sollen alle Gebäude wieder im alten Glanz erstrahlen. Die aufwändigen Arbeiten erscheinen allerdings nicht jedem Beobachter zeitgemäß, wenn sie im Fokus der großen sozialen Probleme gesehen werden, die Russland in den letzten Jahren heimsuchen. Eigens für die Renovierung der Gotteshäuser unterhält das Kloster Transportschiffe, Baugeräte, einen Hubschrauber und zahlreiche Facharbeiter sowie Ikonenmaler.
Die Finanzierung des Wiederaufbaus erfolge durch „private Wohltäter“, wie Vater Mefodij die betuchten Spender betitelt. Die Bruderschaft verfügt in Russland über mächtige Befürworter. So kursiert das Gerücht, dass Patriarch Alexi II., das geistige Oberhaupt der orthodoxen Kirche, eine Sommerresidenz auf der Insel errichten wird. Auch Wladimir Putin steht dem Kloster nahe. Mit Stolz präsentiert Mefodij die gemeinsamen Bilder mit dem Präsidenten, der im vergangenen Jahr die Insel besuchte.
Auf Walaam haben unverkennbar neue Zeiten begonnen. „Wir werden die neuen Herausforderungen meistern“, sagt Mefodij und beantwortet beklommen sein Mobiltelefon, das er aus seiner Kutte zu Tage befördert. Die Insel zeigt sich hin und her gerissen zwischen Abgeschiedenheit und Aufmerksamkeit, geistlichem und weltlichen Leben, Mobilfunk und Gebetskette - aber ruhige Zeiten hat die Insel auch in der Vergangenheit nicht erlebt.
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