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Die russische Schattenwirtschaft wächst, enzieht sich staatlicher Kontrolle und lebt von direkten menschlichen Beziehungen (Foto: Archiv) |
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Donnerstag, 04.04.2013
40 Proz. Schattenwirtschaft: Russland liberalstes Land der WeltMoskau. Etwa 40 Prozent der russischen Wirtschaft entzieht sich staatlicher Kontrolle. Von 86 Millionen arbeitsfähiger Bevölkerung ist nur bei 48 Mio dem Staat bekannt, wo und wie sie arbeiten. So offizielle Angaben, tatsächlich liegt noch mehr im Dunkeln. Und es wird immer mehr.
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Die Zahlen stammen von Vize-Regierungschefin Olga Golodjez, vorgetragen auf einer Fachkonferenz der Hochschule für Wirtschaft in Moskau. Verständlicherweise zahlen die 38 Millionen Menschen, die offiziell nirgendwo arbeiten, auch nirgendwo Einkommenssteuer oder sonstige ans Einkommen gebundene Abgaben. Und von den 48 Millionen, die offiziell erfasst sind, dürfte ebenfalls eine grössere Anzahl wenigstens einen Teil seiner Einkünfte im Dunkeln halten.
Die Zahlen entsprechen in etwa dem Zustand des Landes Anfang bis Mitte der Neunziger Jahre; allerdings reichten damals die Schätzungen über den Umfang der Schattenwirtschaft an bis zu 70%. Auch Konzerne rechneten damals in Naturalien untereinander ab. Kies gegen LKW, Schweröl gegen Möbel. Die Ursache dafür war schlicht und einfach, dass die Summe der Steuern und Abgaben plus Nebenkosten für bestechliche Beamte immer über 100% der möglichen Einnahmen lag.
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Nachdem (unter Putin) der Einkommenssteuersatz auf pauschal 13% fixiert und akzeptable Lohnnebenkosten eingeführt worden waren, wagte sich ein erheblicher Teil der Gesellschaft doch vorsichtig aus dem Dunkel der Schattenwirtschaft an Licht. In den letzten Jahren kippte der Trend allerdings wieder.
In 2011 wurden die Sozialversicherungsabgaben angehoben, trotz heftiger Proteste vor allem von kleineren und mittleren Unternehmen - sofort folgte die Reaktion. Unternehmen meldeten scharenweise die Betriebsauflösung an. Zu den Präsidenten-Wahlen 2012 wurden die Abgaben daraufhin gesenkt, aber 2013 (unter Putin) doch wieder erhöht.
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Verdoppelung der Sozialabgaben treibt KMU in den Untergrund
Seit Januar 2013 galten als Mindestsätze für Sozialabgaben nicht mehr jährlich etwa 17.000 Rubel wie noch 2012, sondern schlagartig 35.000 (ca 800 Euro) pro Jahr. Wieder erfolgte eine promte Reaktion: 293.000 Kleinunternehmer bzw 7% aller Kleinunternehmer gaben seit Jahresbeginn ihr Geschäft auf.
Zur gleichen Zeit versuchen auch Grossunternehmen die Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken, indem sie immer grössere Teile der Löhne in bar auszahlen.
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Wanderarbeiter, Saisonarbeiter und Provinzarmut
Die Masse der mindestens 38 Millionen arbeitsfähiger Menschen, die auf dem schwarzen oder grauen Markt arbeiten, besteht nur zum Teil aus Arbeitsmigranten und Wanderarbeitern aus Mittelasien, Moldawien und der Ukraine, die oft legal einreisen, aber illegal arbeiten.
Die Summe der Wanderarbeiter wird auf drei bis acht Millionen geschätzt. Mindestens mehr als 30 Millionen Russen arbeiten also ohne Wissen des Staates und der Finanzbehörden.
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Es handelt sich dabei unter anderem um Menschen aus der russischen Provinz, die sich mit Saisonarbeit oder als Tagelöhner durchs Leben schlagen müssen, weil es oft gar keine offiziellen Arbeitsplätze gibt.
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Ein weiterer Teil der Schattenwirtschaft sind Städter, die ihre Stadtwohnungen steuerfrei an höher qualifizierte Arbeitsmigranten vermieten, selbst auf dem Lande wohnen und sich zum Teil aus dem eigenen Datscha-Gemüsegarten ernähren.
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Die Abwanderung in die Grosse Freiheit der Schattenwirtschaft ist die Reaktion auf des Staates, alles zu kontrollieren, ohne sich selbst zu ändern
Dabei ist die Abwanderung ins Dunkel der Schattenwirtschaft nur die Kehrseite der immer stärkeren Bemühungen des Staates, alles unter Kontrolle zu nehmen. Gleichzeitig aber erfüllt der Staat nur wenige seiner Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber.
Es sei für viele nicht einsehbar, warum sie überhaupt Steuern, Abgaben, Renten-, Sozial- und Krankenversicherung zahlen sollten, wo sie doch nirgends eine Gegenleistung dafür erkennen könnten, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Iwan Ognjew.
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So kommt es jedenfalls, dass die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft in Russland immer grösser wird und die deklarierte Modernisierung an den Menschen weitgehend vorbeigeht. Woraus allerdings nicht folgt, dass besagte 38 Millionen sich an revolutionären Umtrieben beteiligen würden.
Das ist für sie jedenfalls so lange nicht sinnvoll, wie sie auf verschiedensten dünnen Kanälen ausreichend viel vom Ausverkauf der Öl-, Gas- und Rohstoffvorkommen abbekommen.
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Man sollte den riesigen Unterleib der russischen Gesellschaft lieber nicht antasten
Man hat sich in der grossen Liberalität der Schattenwirtschaft, die auf direkte menschliche Beziehungen ohne staatliche Vermittlung setzt, ganz gut eingerichtet - und bleibt ruhig, solange sich daran grundlegend nichts ändert. Wer also ein stabiles Russland möchte, der sollte den grossen Unterleib der Gesellschaft besser in Frieden lassen.
Für Westohren ist es vielleicht ein Graus, aber dies ist im Moment Zivilgesellschaft a la Russland. "Unten" lässt sich erst dann etwas ändern, wenn "oben" gründlich ausgemistet und umgebaut worden ist.
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Gisbert Mrozek, Gebiet Nowgorod
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Stoll 05.04.2013 - 10:11
Ein guter informativer lesbarer Artikel Gisbert Mrozek.
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(Topfoto: Siegmund/.rufo)
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