Kommentare, Glossen, Hintergründiges
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01-09-2004 Schlagseite |
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Der Terror in Russland eskaliert
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Von Lothar Deeg, St. Petersburg. Tupolew-Terror, eine Bombe vor der Metro und nun Schulkinder als Geiseln: Der Sommer 2004 wird wohl wie der Herbst 1999 in die russische Geschichte eingehen: Damals heizte eine Serie von vier Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser den zweiten Tschetschenienkrieg erst richtig an: Putin, damals noch Ministerpräsident, entschied sich zum energischen Handeln. Was passiert jetzt?
Damals entschied Putin, das quasi-souveräne Tschetschenien, berüchtigt als Brutstätte von Bandenwesen und Fanatismus, nicht länger nur zu isolieren, sondern von Truppen "heim ins Reich" holen zu lassen. Dies ist formell gelungen: In Tschetschenien gibt es eine Verfassung, die im Einklang mit dem russischen Staat steht - und gewählt wird jener Präsident, den sich der Kreml wünscht.
Der nun schon zehn Jahre alte Krieg ging aber unvermittelt weiter, wenn gleich an zunehmend diffusen Fronten: Die "Banditen" - so die offizielle russische Sprachregelung - sprengen mit Hinterhalten und Kamikazekämpfern Militärfahrzeuge und tschetschenische Zivilbehörden, die "Föderalen" - darunter auch immer mehr Einheimische - machen gnadenlos Jagd auf "Wahhabiten" und alle, die verdächtig scheinen, mit ihnen unter einer Decke zu stecken. Akte von Terror, Antiterror und Gegenterror, garniert durch die Gewalt von russischem Strafgesetz und kaukasischer Blutrache, sorgen für immer neuen Hass und Blutvergießen.
Anschläge in Moskau gab es schon zuvor. Aber jetzt ist dieser Konflikt eskaliert - gleich in mehreren Richtungen: Am ersten Schultag Kinder als Geiseln zu nehmen, ist so miserabel, dass es für den Verstand nicht mehr erklärbar ist: Der Terror hat eine neue Stufe der Unmenschlichkeit erreicht.
Eine Woche zuvor vernichteten Selbstmörderinnen zwei zivile Linienflugzeuge. Auch wenn es Inlandsflüge waren, können derartige Angriffe nicht als rein russisches Problem abgetan werden: Der Luftverkehr ist ein internationales Netz.
Zu dieser Tat wie der Bombe vor der Moskauer Metro bekannte sich eine international agierende islamistische Untergrundgruppe. Ob sie von Ausländern gesteuert wird, ist unklar. Aber sie trägt den Namen eines Ägypters - und fordert nicht Tschetscheniens Unabhängigkeit, sondern Rache an "russischen Ungläubigen". Religion wird zum Kriegsgrund hochstilisiert - wie schon in Israel und im Irak.
Alte und neue inguschisch-ossetische Spannungen
Und im Juni hatten Kämpfer für eine Nacht die inguschetische Metropole Nasran - bislang trotz der Nachbarschaft zu Tschetschenien ein eher ruhiger Ort - besetzt und töteten dabei jeden Staatsbeamten, der ihnen in die Hände fiel. Unter den Tätern waren viele Einheimische. Die Geiselnehmer in Nordossetien kommen offenbar aus der gleichen Gruppierung. Sie heizen damit den schon seit 30 Jahren schwelenden Konflikt zwischen Inguschen und Osseten an: Nicht nur Macht, Land und Glaube sind somit Gegenstand des Terrorkriegs, sondern auch noch lokale ethnische Spannungen.
Die Russen, bislang fatalistisch gegenüber gelegentlichen Bomben, zeigen sich von der Terror-Offensive zunehmend verunsichert. Von Putin wird jetzt mehr erwartet als nur ein unterbrochener Urlaub. Nichtstun gilt als Schwäche, aber was tun? Verstärkte Geheimdienstbemühungen würde niemand bemerken. Repressionen gegen Tschetschenen wären vielleicht populistisch wirksam. Aber dieses Volk gilt ja nun, siehe das Wahlergebnis vom Sonntag, offiziell als Verbündeter im Kampf gegen die Terroristen.
Psychologen statt Panzer gefragt
Anders als nach der Anschlagserie 1999 - und auch George Bush nach dem 11. September - kann Putin diesmal nicht mit der Entsendung der Armee reagieren. Mit Luftwaffe und Panzern kann die akute Terror-Infektion Russlands nicht kuriert werden. Selbst der spontane Einsatz einer Spezialeinheit verbietet sich, weil ein Sturm der Schule noch fataler ablaufen würde als die Gas-Attacke im Moskauer Musicaltheater: Auch die Kidnapper werden daraus ihre Lehren gezogen haben.
Das Geiseldrama von Beslan ist ein Fall für Psychologen und routinierte Unterhändler. Und auch seine Ansätze zur Eindämmung der Terror-Eskalation sollte der Kreml besser bei deren Methoden suchen - und nicht länger vorrangig mit Gewalt auf Gewalt reagieren. Bei so einer Politik hätte Putin alle Rückendeckung, auch aus dem Ausland, ehrlich verdient.
(ld/rufo)
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