Von Karsten Packeiser, Moskau. Niemals wird Igor Soboljew jenen Moment im Mai 1954 vergessen, als plötzlich die Tür des Karzers aufgebrochen wurde, in dem er eingesperrt war, und ein Mann ihm zurief, er sei frei. “Das war ein unvergleichliches Gefühl”, erinnert sich der Renter 50 Jahre später. Die Häftlinge des Straflagers von Kengir in der kasachischen Steppe rissen die Gitter von den Fenstern ihrer Baracken und jagten ihre Bewacher fort.
Über einen Monat lang dauerte die Häftlingsrevolte, die auf Befehl aus Moskau schließlich mit Panzern niedergeschlagen wurde.
Nach dem Tod Stalins hatten Millionen Arbeitssklaven des sowjetischen Gulag-Systems ihre baldige Freilassung erwartet. Als sich die Hoffnungen nicht bewahrheiteten, rollte eine Welle von Sträflingsaufständen durch die Arbeitslager Sibiriens und Mittelasiens. “Wir hatten klare Forderungen”, berichtet Igor Soboljew, “das Gulag-System sollte aufgelöst, die Haftstrafen revidiert und diejenigen Wächter bestraft werden, die Lagerinsassen erschossen hatten.”
In Kengir entstand auf einer Fläche von etwa einem Quadratkilometer eine “Insel der Freiheit”. Politische Häftlinge und Kriminelle, die gewöhnlich von der Lagerleitung gegeneinander ausgespielt wurden, bauten gemeinsam Barrikaden und organisierten eine interne Selbstverwaltung. Nachdem dem Lagerkomplex der Strom abgestellt wurde, bauten geschickte Häftlinge binnen kürzester Zeit ein Wasserkraftwerk, um den Energiebedarf zu decken. Zum Anführer der Aufständischen wurde ein Offizier der Roten Armee gewählt, der in deutsche Gefangenschaft geraten und deswegen nach Kriegsende wegen “Landesverrats” zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde.
Zweimal versuchten die sowjetischen Behörden, das Gelände zu stürmen und schickten anschließend Delegationen zu Verhandlungen ins Lager. Erfolglos. Am 26. Juni begannen Panzer und Fallschirmspringer nach dem Ablauf eines Ultimatums den entscheidenden Großangriff, den Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn in seinem “Archipel Gulag” beschreibt. “Es war ein furchtbares Bild”, erinnern sich Zeitzeugen, “überall war Blut”. Schätzungsweise 500 meist unbewaffnete Menschen starben im Feuer von Maschinengewehr-Salven oder wurden von den Panzern zerquetscht. Nach der Niederschlagung der Revolte vergingen noch einmal mehrere Jahre, bis die Sowjetführung das Gulag-System endgültig auflöste.
Obwohl die Gräuel der Stalin-Zeit seit über zehn Jahren kein Tabu mehr in Russland sind, wissen viele Russen bis heute nur wenig über die dunkelste Epoche der sowjetischen Geschichte. “In den Geschichtsbüchern gibt es nur ein paar Zeilen über den Gulag”, bedauert Semjon Wilenskij, Vorsitzender der Vereinigung ehemaliger Lager-Häftlinge “Woswraschtschenije” (“Heimkehr”).
Zu den Überlebenden des Aufstands von Kengir gehört auch Iren Arginskaja. Sie war 1948 als Schülerin in Moskau verhaftet worden. Gemeinsam mit ihren Freunden hatte sie heimlich die Werke der marxistischen Klassiker gelesen, “mit der Wirklichkeit verglichen” und wurde dafür ebenfalls zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach dem Aufstand habe sie nie wieder Angst vor Vorgesetzten oder der Staatsmacht empfunden. “Je mehr Zeit vergeht, desto mehr weiß ich die Ereignisse als Geschenk des Schicksals zu schätzen”, sagt Arginskaja heute. “Wir haben damals unsere Leibeigenschaft abgeschüttelt.”
(epd)
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