St. Petersburg. Die Explosion eines neunstöckigen Wohnblocks in Archangelsk war kein Unglück und offenbar auch nicht eine Wahnsinnstat obdachloser Altmetallsammler, sondern ein Terrorakt: Vor zwei Jahren versuchten im Gebiet Archangelsk unbekannte Täter schon einmal mit Hilfe von Kerzen und geöffneter Gasleitungen einen Wohnblock in die Luft zu jagen. In Archangelsk wurden inzwischen 50 Todesopfer gezählt – und der Trümmerberg ist noch immer nicht ganz abgetragen.
Am 15. April 2002 wurden in gleich zwei Treppenhäusern eines fünfstöckigen Wohnblocks in der Provinzstadt Korjashma, etwa 600 Kilometer südlich von Archangelsk, von den Bewohner starker Gasgeruch bemerkt. Schlimmeres konnte verhindert werden. Bis heute unbekannte Täter hatten Überdruckventile aus den Gasleitungen herausgedreht. Was diese Tat damals nach Meinung der Ermittler des Inlandsgeheimdienstes FSB zu einem Terrorakt machte, waren brennende Kerzen. Sie standen zwischen der dritten und der vierten Etage auf der Treppe. Hätte sich das Treppenhaus bis zu dieser Höhe mit Gas gefüllt, wäre das Haus unweigerlich in die Luft geflogen. Auch in anderen Gebäuden von Korjashma war damals an den Gasleitungen manipuliert worden.
Inzwischen gibt es einige Indizien, dass die gleichen oder ähnliche Low-Budget-Terroristen in der Nacht auf Dienstag in der Innenstadt der Gebietshauptstadt Archangelsk unterwegs waren: Auch in zwei anderen Wohnblöcken in der Nähe des zerstörten Hauses wurden zur gleichen Zeit Gasleitungen aufgeschraubt. Wie die Zeitung „Kommersant“ berichtete, erwachten deren Bewohner jedoch nicht durch den Gasgeruch, sondern durch den Knall und die Erschütterungen der Explosion in der Nachbarschaft. Noch bevor alle ins Freie flüchteten, verstopften geistesgegenwärtige Hausbewohner die offenen Gasrohre mit Lappen.
In der Trümmerhalde, die noch zwei Tage zuvor Heimat von etwa 80 Menschen war, fanden die Suchtrupps am Mittwoch angeblich ein wichtiges Beweisstück: ein Stück Gasrohr mit einem herausgedrehten Verschlussteil: „Dies bekräftigt die Hauptversion einer äußeren Einwirkung als Ursache für das Gasleck und die Explosion“, so ein Vertreter der Staatsanwaltschaft. Später widerrief die Behörde die Information über diesen Fund jedoch wieder.
Bei den beiden „wie Obdachlose aussehenden“ Männern, nach denen seit Dienstag in Archangelsk fieberhaft gefahndet wird, handelt es sich offenbar nicht, wie zunächst angenommen, um Altmetallsammler, die ohne jede Rücksicht Teile der Gasleitungen demontierten. Zeugen wollen sie in der Katastrophennacht in der Nähe der Häuser mit eisernen Gerätschaften gesehen haben, bei denen es sich entweder um Rohrstücke oder auch um Spezialwerkzeuge zum Öffnen der Verschraubungen gehandelt haben könnte. Ohne spezielle Schraubenschlüssel seien die Verschlüsse und Ventile an den hausinternen Gasleitungen nicht zu entfernen, so Wladimir Lochow, Chef des Gebietsgasversorgers Oblgas.
Laut Lochow macht es auch keinen Sinn, wenn Altmetalljäger sich an Gasleitungen vergreifen würden: Die aus Bronze oder Messing gefertigten eingeschraubten Rohrpfropfen würden nur wenige Gramm wiegen – „um das Geld für eine Flasche Wodka zu bekommen, müsste man Dutzende Häuser abklappern“. Zudem seien die meisten dieser Verschlüsse ohnehin aus Gusseisen, was sie vom Materialwert fast völlig uninteressant für derartige „Recycling-Spezialisten“ machen würde. Die Archangelsker Polizei verhaftete inzwischen über 60 Obdachlose, die jedoch alle nach Verhören und Überprüfungen wieder frei gelassen wurden.
Darunter waren letzten Berichten zufolge auch zwei Männer, auf die die Zeugenbeschreibungen zutrafen. Aber auch sie erwiesen sich als Unbeteiligte. Auch die etwa 50 Annahmestellen für Altmetall in der Stadt wurden auf das Vorhandensein von Gasversorgungs-Gerätschaften überprüft – ohne Resultat. Die Tätersuche muss deshalb vorerst ohne konkrete Anhaltspunkte weiter gehen.
Ein Sprecher der Innenbehörde von Archangelsk widersprach Berichten, wonach das Haus von Polizeibeamten und deren Familien bewohnt gewesen sei. Das Gebäude sei zwar tatsächlich einst für Angehörige der Polizei errichtet worden. Doch schon Mitte der 90er Jahre ging es in kommunale Trägerschaft über. Unter den 36 Mietern seien zum jetzigen Zeitpunkt nur noch drei Polizisten und ein Miliz-Pensionär gewesen.
Welche Motive den oder die Gas-Terroristen umtreiben, ist aber noch völlig unklar.
Die 800 Mann starken Rettungsmannschaften trugen am Mittwoch den Trümmerberg an der Straße der sowjetischen Kosmonauten weiter Stück für Stück ab. Seit Dienstag Mittag wurden dort aber keine Überlebenden mehr gefunden, sondern nur noch Leichen. Die Zahl der Todesopfer der Gasexplosion stieg inzwischen auf 50. Darunter sind sieben Kinder. In den Krankenhäusern der Stadt befinden sich noch zwölf Verletzte, fünf davon in schwerem Zustand. Unter den Trümmern werden noch bis zu 15 Hausbewohner vermutet.
Überlebt haben das Unglück 24 Menschen, die hauptsächlich die obersten beiden Etagen bewohnten. Zu ihnen gehört die dreiköpfige Familie Kurotschkin. Während sich die Eltern nach dem Knall verletzt und von Trümmern bedeckt auf der Straße wiederfanden, fehlte von dem acht Jahre alten Artjom zunächst jede Spur, berichtet heute die „Iswestija“. Plötzlich hörte die Mutter dann jedoch die Stimme ihres Sohnes; „Mama, mir ist kalt!“ Der Junge stand oben im neunten Stock in der Tür seines Zimmers, die ins Nichts führte. Der Rest der Wohnung war abgestürzt. Feuerwehrleute retteten Artjom mit einer Leiter, seine Mutter konnte ihn unten völlig unverletzt in die Arme schließen.
(ld/rufo)
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