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16-03-2004 Panorama

Gasexplosion zerfetzt Wohnblock in Archangelsk

Bergungsarbeiten in Archangelsk (foto: vesti/news.ru)Von Lothar Deeg, St. Peterburg. In Russland häufen sich die Katastrophen: Im nordrussischen Archangelsk wurde ein neustöckiger Wohnblock der Polizeibehörde durch eine Gasexplosion komplett zerstört. 24 Menschen überlebten die nächtliche Katastrophe, doch die Zahl der Todesopfer stieg am Dienstag fast stündlich: Um 17 Uhr waren 23 Tote geborgen, bis zu 20 Bewohner können noch unter den Trümmern liegen. Ursache war vermutlich Sabotage an einer Gasleitung – ob durch Altmetalldiebe oder Terroristen, ist noch unklar.

Die Explosion um 3.03 Uhr zerstörte eine Sektion des Wohnhauses mit etwa 40 Wohnungen bis auf die Grundmauern. Der Plattenbau stürzte wie ein Kartenhaus ein. Zwischen den Betonplatten bilden sich dabei Zwischenräume, weshalb die Rettungsmannschaften die Hoffnung haben, noch Überlebende zu finden. Auf dem Trümmerberg waren 900 Mann im Einsatz, darunter auch aus Moskau und Nachbarregionen eingeflogene Bergungsspezialisten mit Suchhunden.

Zu den Überlebenden gehört eine Frau aus der neunten Etage: „Es gab einen harten Knall, dann einen stumpfen Schlag. Ich merkte, wie ich durch Wolken aus Staub flog“, sagte sie im Krankenhaus. Insgesamt waren in den zerstörten Wohnungen 63 Personen gemeldet. Dabei handelt es sich um Familien ehemaliger oder aktiver Beamter des Innenministeriums.

Auf ein solches Miliz-Wohnhaus war 1999 in Dagestan ein Bombenanschlag verübt worden, was zum Auftakt einer Terrorserie mit insgesamt vier gesprengten Wohnhäusern wurde. In Archangelsk wurden von der russischen Sonderpolizei FSB jedoch keine Sprengstoffspuren festgestellt. Für eine Gasexplosion spricht, dass der Notdienst der städtischen Gaswerke schon zum Prospekt der Sowjetischen Kosmonauten 120 unterwegs war, als das Gebäude explodierte. Dies war nicht der erste Alarm in dieser Nacht: Ein Notdienst-Mitarbeiter erklärte an der Unglücksstelle, zuvor hätte es bereits in zwei anderen Häusern in der Nachbarschaft Gaslecks gegeben: „An den Gasleitungen waren Verschlüsse herausgedreht.“

Ob derartige Sabotage auch die Ursache des Unglücks war, versuchen jetzt die Ermittler von FSB und Staatsanwaltschaft zu klären. Die Archangelsker Polizei hat eine Großfahndung nach zwei „heruntergekommen aussehenden“ Männern eingeleitet. Sie waren in der Unglücksnacht aufgefallen, weil sie ein anderthalb Meter langes, grün gestrichenes Stahlrohr mit sich herumtrugen. Möglicherweise demontierten sie Teile von Gasleitungen, um sie bei Altmetallhändlern gegen ein paar Rubel einzutauschen.

Fachleute halten dies zwar für eine nur im Wodka-Vollrausch mögliche Kamikaze-Aktion, aber derartige Fälle kommen in Russland immer wieder vor: Gestohlen werden nicht nur unter Hochspannung stehende Stromkabel und Oberleitungen, sondern auch Eisenbahnschienen, Aufzugsmotoren oder Telefonkabel. Den Metalldieben kommt entgegen, dass in kommunal bewirtschafteten Wohnhäusern die Treppenhäuser oft nicht verschlossen sind, weil es an den Eingangstüren keine funktionsfähigen Schlösser gibt – sei es, weil sie nie vorhanden waren, kaputt gingen oder auch gestohlen wurden. Ersatz bleibt dann meist der Privatinitative der wenigen ebenso zahlungsfähigen wie sicherheitsbewussten Bewohner überlassen.

Katastrophen und Terroranschläge mit Dutzenden von Toten lassen Russland seit Februar nicht zur Ruhe kommen: Auf das Bombenattentat in der Moskauer Metro folgte der Einsturz des nur zwei Jahre alten Badeparks „Transvaal“ sowie die Explosion eines Cafes in Tschita wegen einer defekten Gasflasche. Am Sonntag ging dann noch die historische Manege direkt neben dem Kreml in Flammen auf – Brandursache noch unbekannt.

Der heruntergekommene Zustand der weitgehend noch aus der Sowjetzeit stammenden Infrastruktur im Lande erhöht die Wahrscheinlichkeit von Unglücken. Das Katastrophenschutzministerium berechnet diese Gefahr bereits statistisch und prognostizierte für 2004 insgesamt 600 „technogene Katastrophen“ in Russland. In den meisten Fällen sind Technik-Unglücke aber ebenfalls von Menschen bewusst oder fahrlässig verursachte Katastrophen – schon allein, weil Sicherheitssysteme fehlen oder defekt sind. Aber anstatt deshalb besondere Vorsichtsmaßnahmen einzufordern und Verantwortung zu zeigen, ziehen sich Behörden und Politiker gerne auf die achselzuckende Begründung „typisch russische Schlamperei“ zurück – und suchen dann einen kleinen Hausmeister oder Techniker, dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann.

Bei www.aktuell.RU
• Archangelsk: Neue Herausforderung für Putin (16.03.04)
• Behörden erwarten 900 Katastrophen in diesem Jahr (03.03.04)

Einzig in Archangelsk, wo im vorletzten harten Winter die Heizungen wegen kommunaler Misswirtschaft oft kalt blieben, wird Gouverneur Anatoli Jefremow nun wohl sein Amt verlieren: Bei Neuwahlen am Sonntag kam er nur auf 25 Prozent der Stimmen. In der nun anstehenden Stichwahl hat er nun wohl erst recht keine Chance auf eine Wiederwahl –genau dies könnte auch ein Tatmotiv für einen terroristischen Sabotageakt gewesen sein.
(ld/rufo)

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