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Wirtschaft & Geld     

20-03-2004 Wirtschaft & Geld

Putin erhöht Investitionsattraktivität Russlands

Leonid Grigorjew Moskau. Steht die russische Wirtschaft am Anfang eines nachhaltigen langfristigen Aufschwungs? Interview mit Leonid Grigorjew, Präsident des russischen Verbands der unabhängigen Zentren für Wirtschaftsanalyse, über die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven nach der Präsidentschaftswahl. Das Gespräch führte Dr. Christopher Storck in Berlin.

aktuell.RU: Herr Grigorjew, Sie sind zurzeit auf Einladung des Deutsch-Russischen Forums in Deutschland, das sich seit mehr als zehn Jahren für die Förderung der Zivilgesellschaft in Russland einsetzt. Der Westen hat den Sieg Wladimir Putins mit der Kontrolle der Medien und die Schwäche der Zivilgesellschaft erklärt. Wie sieht das ein russischer „Wirtschaftsweiser“?

Die beiden genannten Faktoren haben ohne Zweifel eine Rolle gespielt. Die eigentlichen Ursachen liegen aber tiefer: Die Menschen in Russland erleben zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine längere Phase politischer und wirtschaftlicher Stabilität. Fast fünf Jahre Wirtschaftsaufschwung ist für uns eine völlig neue Erfahrung. Und dieser Vorgang fällt zeitlich zusammen mit der Präsidentschaft von Wladimir Putin. Die Tatsache, dass die Entwicklung der Zivilgesellschaft mit dem ökonomischen Fortschritt nicht Schritt gehalten hat, ist für die meisten Russen zurzeit zweitrangig.

aktuell.RU: Woran machen Sie diesen Aufschwung fest?

Die Menschen spüren, was die makroökonomischen Indikatoren bestätigen: Die russische Wirtschaft ist in den Jahren 2000 bis 2003 im Durchschnitt um 6,8 Prozent jährlich gewachsen, in den vier Jahren zuvor waren es gerade mal 0,7 Prozent. Noch deutlicher wird diese Entwicklung beim Konsum der Privathaushalte: einem jährlichen Zuwachs von 8,4 Prozent in der letzten Legislaturperiode stehen minus 0,5 Prozent in den letzten vier Jahren der Jelzin-Ära gegenüber. Die Arbeitslosenquote ist von 12,5 auf 8,8 Prozent gesunken, und Streiks haben wir gar nicht mehr erlebt. Der Staatshaushalt ist ausgeglichen, Auslandsverschuldung und Inflationsrate sind gesunken. Die nationalen Aktienindices setzen eine Rekordmarke nach der anderen. Die Ratingagentur Moody’s hat Russland den Investment-Grade verliehen. Mit anderen Worten: Man kann das Ergebnis der Präsidentschaftswahl auch erklären, ohne die im Westen verbreiteten Klischees von Russland zu bemühen.

aktuell.RU: Sind diese Erfolge aber nicht vor allem das Ergebnis eines konstant hohen Ölpreises?


Ohne Zweifel. Das Wachstum der letzten Jahre war nur zu einem geringen Teil das Ergebnis von Reformen. Reformen hat es zwar gegeben – zum Beispiel beim Steuerrecht, bei der Altersversorgung, im Finanzsektor, bei der Entbürokratisierung, bei der Justiz –, die eigentliche Modernisierung des ökonomischen Systems steht aber noch aus. Wirtschaftspolitisch steht Russland heute wieder einmal am Scheideweg: Die Regierung hat jetzt die Aufgabe, geeignete Rahmenbedingungen für eine Diversifizierung der Volkswirtschaft und damit für nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Putin hat dafür die nächsten vier Jahr Zeit. Die Voraussetzungen sind heute so günstig wie nie zuvor: Russland ist erstmals in der komfortablen Lage, eine Weichenstellung von elementarer Bedeutung in einer Situation vorzunehmen, die nicht kritisch ist. Diesmal geht es nicht ums nackte Überleben, sondern um die langfristige Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der russischen Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung.

aktuell.RU: Welche Weichen müssen gestellt werden, damit das von Putin gesteckte ehrgeizige Ziel erreicht werden kann, das Bruttoinlandsprodukt bis 2010 zu verdoppeln?

Russland exportiert vor allem zu viel Kapital – mehr als wir aus dem Ausland anziehen können. Wir haben nach den USA und Deutschland die meisten Milliardäre der Welt. Diese transferieren aber einen Großteil ihres Geldes ins Auslands – bis hin zur Finanzierung britischer Fußballklubs. Diese Gelder fehlen der russischen Wirtschaft. Dafür gibt es nur eine dauerhafte Lösung: Die Attraktivität von Investitionen in Russland muss dadurch erhöht werden, dass die Rahmenbedingungen und Ertragsaussichten verbessert werden.

aktuell.RU: Mit anderen Worten: Russland muss Behördenwillkür und Korruption weiter abbauen und größere Rechtssicherheit herstellen, um die Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Wirtschaftsstandorts zu erhöhen. Wie schwierig grundlegende Reformen sind, erlebt die deutsche Gesellschaft seit Monaten am eigenen Leib. Was spricht dafür, dass es Russland schafft?

Mit der Bildung einer Regierung aus Fachleuten hat der Präsident den richtigen Weg eingeschlagen. Die führenden Köpfe in der neuen Regierung haben eine juristische Ausbildung und bringen beste Voraussetzungen mit, um die dringend erforderliche Verwaltungsreform in Gang zu bringen. Sie haben aber Recht: Das Problem ist die praktische Umsetzung – ambitionierte Konzepte sind in Russland in den letzten 100 Jahren viele entwickelt worden. Was mich und meine Kollegen optimistisch stimmt, ist folgendes: Die Veränderungen bei der Regierung beschränken sich nicht auf die personelle Zusammensetzung und die interne Aufgabenverteilung. Tatsächlich beobachten wir einen tiefgreifenden strukturellen Umbau, der darauf zielt, die Effizienz der Regierungsarbeit zu steigern. Um die Geschwindigkeit, mit der Gesetzesvorlagen erstellt werden, zu erhöhen und die praktische Umsetzung dieser Gesetze nachher besser steuern zu können, sollen sich die Ministerien künftig auf die Gesetzgebung konzentrieren. Die administrativen Dienstleistungen zu erbringen, wird Aufgabe gesonderter Agenturen sein, die wiederum von einer dritten Organisationsebene kontrolliert werden. Eine solche klare Trennung zwischen legislativen, exekutiven und Controlling-Funktionen, hat es bislang nicht gegeben.

aktuell.RU: Wann rechnen Sie mit vorzeigbaren Ergebnissen?

Ich erwarte, dass im Juni Gesetzespakete zur Lösung einer Reihe von Problemen vorgelegt werden, die auf der Agenda des Präsidenten ganz weit oben stehen: Gesundheitsversorgung, Wohnungsmarkt, Energie- und Wasserversorgung, Liberalisierung des Strom- und des Gasmarktes, Regulierung der Finanzmärkte.

aktuell.RU: Herr Grigorjew, vielen Dank für das Gespräch.


Leonid Grigorjew


Über Leonid Grigorjew

Dr. Leonid M. Grigorjew (*1947) ist Präsident des Verbands unabhängiger Zentren für Wirtschaftsanalyse, Leiter des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen und stellvertretender Direktor des „Expert Institutes“ in Moskau. Zuvor war er von 1992 bis 1997 Berater des Exekutiv-Direktors der Weltbank in Washington und von 1991 bis 1992 stellvertretender Wirtschafts- und Finanzminister der Russischen Föderation.



Über den Verband

Der Verband unabhängiger Zentren für Wirtschaftsanalyse (Association of Russian Economic Think Tanks, ARETT) wurde im Oktober 2002 im Rahmen des Programms der Russischen Föderation zur Förderung unabhängiger Zentren für Wirtschaftsanalyse und mit Unterstützung der US Agency for International Development (USAID) gegründet. Der Organisation gehören heute 33 Mitglieder aus Moskau, St. Petersburg und anderen wirtschaftlichen Zentren der Russischen Föderation an. Nähere Informationen unter www.arett.ru.


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