Von Mandy Ganske, St. Petersburg. „Wenn Ausländer hierher kommen, sind sie zunächst einmal taub, stumm und blind.” So erinnert sich Nils Kalle an seine ersten Schritte auf russischem Boden, als er überall nur kyrillische Buchstaben sah. Inzwischen spricht er die Landessprache fließend – und bietet Petersburg-Besuchern mehr als nur Unterschlupf in einer fremden Stadt: Der Deutsche ist Inhaber einer der zahlreichen neuen Privat-Pensionen in der Stadt.
Bis vor kurzem gab es für Touristen in St. Petersburg zu den mehr oder weniger großen und etablierten Hotels faktisch keine Unterkunfts-Alternativen. Doch inzwischen zählt die Stadt bereits 60 bis 70 Mini-Hotels, die jeweils um die zwanzig Zimmer bieten. Allein im Jubiläumsjahr 2003 haben knapp zwei Dutzend von ihnen neu eröffnet.
Hinzu kommen unzählige private Pensionen, die sich oft auch „Bed & Breakfast Hotels“ nennen. Nachfrage ist vorhanden, was die stetig wachsenden Touristenzahlen beweisen: Im vergangenen Jahr kamen schon ein Zehntel mehr Besucher als in den Jahren zuvor in die russische Kulturmetropole, insgesamt etwa drei Millionen Menschen. In der Hochsaison von Mai bis Juli konnte dabei gerade mal knapp die Hälfte der Nachfrage durch die Hotels der Stadt gedeckt werden. Vor allem fehlt es an Unterkünften, die sich drei oder vier Sterne anheften dürfen.
Private Pensionen und Mini-Hotels versprechen hier Abhilfe. Finanziert wird dieser derzeit am schnellsten wachsende Markt der Beherbergungs-Branche oft aus privater Hand, weil die Banken sich scheuen, dafür Kredite zu vergeben. So erging es auch Nils Kalle und seiner Frau Marina: Nachdem der Schleswig-Holsteiner vor acht Jahren zu seiner Frau nach St. Petersburg übergesiedelt ist, hat er zunächst einige Jahre als Immobilienmakler gearbeitet und ist derzeit im Qualitätsmanagement tätig. Mit Blick auf die Tourismusbranche in Piter wollte er sich diese Berufserfahrung zu nutze machen. Als sich das Ehepaar jedoch frohen Mutes aufmachte, ihre Geschäftsidee zu verwirklichen, gestaltete sich die Finanzierung schwierig.
So entschloss sich Nils Kalle, Freunde und Bekannte aus Deutschland in das Projekt mit einzubeziehen, um das nötige Geld zusammen zu bekommen. Bei vielen war jedoch die Skepsis ähnlich groß wie bei den Banken. Nichtsdestotrotz: Der engste Familienkreis war von der Idee begeistert und stieg mit ein. „Anfang 2003 standen dann 70 Prozent der Finanzierung, und weil ich ein ungeduldiger Mensch bin“, erklärt Kalle, „haben wir zu dem Zeitpunkt schon mit der Suche nach einer Wohnung begonnen.“
Schnell war ein geeignetes Objekt ausgemacht. „Überraschend“, wie er meint. Zumal es die erste Wohnung war, die besichtigt wurde. „Ich wusste gleich, dass es perfekt ist“, erinnert sich der 39-jährige. Der lange Flur mit den rechts und links abgehenden Zimmern der ehemaligen Kommunalwohnung in dem dreistöckigen Haus der Jahrhundertwende hat ihn überzeugt. Aber 14 weitere Besichtigungen folgten, bevor die Entscheidung fiel.
Ein bisschen Fantasie gehörte schon dazu: Alte Aufnahmen der Wohnung zeigen, wie der Putz abblättert, wie Bretter und Gerümpel herumliegen und die Tapete von den Wänden fällt. Angesichts verdreckter Ecken und alter Fenster kam unweigerlich die Frage auf, wie sich hier einmal Touristen wohl fühlen sollen. Aber der gelernte Landwirt verließ sich auf sein handwerkliches Geschick und das entsprechende Gespür. Im vergangenen Sommer war der Kauf perfekt – und Kalle bereut ihn bis heute nicht.
Von Handwerkern wurden Wände herausgerissen und neu eingezogen, Fenster und Türen eingesetzt, die alten Dielenböden abgeschliffen, Kabel und Leitungen neu verlegt. Der Baulärm muss höllisch gewesen sein, traut man den Beschreibungen Kalles: „Beim Abhobeln der Böden hat das ganze Haus gewackelt.“
Trotzdem hat er es sich mit den Nachbarn in der 5. Sowjetskaja-Straße 21 nicht verscherzt. Im Gegenteil, beteuert er: Das Treppenhaus erfreut sich nun neuer Wandfarbe und eines gestrichenen Geländers und vor der Haustür gibt es Gehwegplatten. Dafür nahmen die Bewohner des Hauses Krach und Staub auf sich.
Nach fünf Monaten harter Arbeit betritt der Besucher nun einen Eingangsbereich mit Sitzbank und Computerecke. Dank eines sonnen-gelben Anstrichs verströmt die Wohnung gar mediterranes Flair. Vom Flur gehen vier Zimmer ab, und eine große Gemeinschaftsküche lädt zum Frühstück ein. „Zwölf Gäste finden Platz“, sagt Kalle und öffnet die Türen zu den zwei pastellfarben gehaltenen Badezimmern, die sich die Gäste teilen.
Eine Prognose der Wirtschaftlichkeit seiner Investition fällt dem frisch gebackenen Kleinunternehmer schwer. Er malt zwei Szenarien aus: Im schlimmsten Fall wird sich das Geschäft erst nach sieben Jahren rechnen. Läuft alles nach Plan, wirft die Pension nach vier bis fünf Jahren Gewinn ab. „Unsere kleine Pension gefällt uns so gut, dass meine drei Kinder, meine Frau und ich hier sogar selbst schon kurz Urlaub gemacht haben.“ Die Ansicht teilen die Gäste wohl, denn Kalle meint, die Resonanz sei äußerst positiv.
Vor allem freuten sie sich über seinen zusätzlichen Service. „Ich will die Gäste ein Stück weit an die Hand nehmen“, so Kalle. Deshalb kooperiert er mit einem Reisebüro, das sich für Ausländer um die notwendigen Einladungen sowie um die Visa-Registrierung kümmert. Auch für den Transfer vom Flughafen und einen englisch- oder deutschsprachigen Fremdenführer sei gesorgt. Eine Kundin habe sogar mal zu ihm gesagt, die Organisation sei zu reibungslos. Und sich bis zum Schluss gefragt: „Wo ist der dicke Hund?“ Sie fand ihn nicht – Abenteuerurlaub ist schließlich nicht jedermanns Sache.
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