Von Lothar Deeg. Der dritte Tag des Geiseldramas verlief in größter Anspannung. Während es um das von tschetschenischen Terroristen besetzte ehemalige Kulturhaus einer Kugellagerfabrik äußerlich ruhig blieb, wurden die Nerven bei Geiseln, Geiselnehmern und auch bei der russischen Bevölkerung dünn. Die Terroristen kündigten an, um 6 Uhr am Samstagmorgen die ersten Geiseln zu erschießen, wenn ihre Forderung nicht erfüllt werde. Auch liegt in Russland Pogromstimmung in der Luft. Wladimir Putin appellierte an sein multiethisches Staatsvolk, Ruhe zu bewahren: Rassenhass sei genau das, was die Terroristen provozieren wollen.
Die Verhandlungen mit den Geiselnehmern gestalten sich äußerst schwierig: Immer neue Forderungen und Drohungen werden von den Geiseln per Handy nach außen getragen, während schon zustande gekommene Vereinbarungen mit dem Einsatzstab und Vermittlern nicht eingehalten werden: Am Morgen machte die Information die Runde, die insgesamt 75 Ausländer unter den Geiseln – darunter auch sieben Deutsche und zwei Schweizer - würden um 9 Uhr freigelassen, sofern Vertreter der entsprechenden Botschaften zur Stelle seien. Im Gegensatz zum Vortag waren die Diplomaten pünktlich vor Ort – aber die nicht-russischen Geiseln kamen nicht heraus.
Die einzigen guten Nachrichten beschränkten sich auf die Freilassung von 15 Geiseln in zwei Gruppen am frühen Morgen und tagsüber. Die zweite Gruppe bestand aus Kindern von 10 bis 12 Jahren. Ein dabei frei gekommenes Mädchen namens Mascha Sedych ist nach Angaben des Krisenstabes Schweizer Staatsbürgerin. Aber noch immer sind unter den etwa 700 Geiseln viele Jugendliche unter 18 Jahren.
Zweimal wurde der russische Kinderarzt Leonid Roschal für einige Stunden zu den Geiseln vorgelassen. Er brachte mehrere Kisten mit Medikamenten mit. Die schwer bewaffneten Besetzer des Theaters lehnen aber bis zum Abend alle Angebote für Lebensmittel- und Getränkelieferungen strikt ab. Da die Vorräte des Theater-Buffets schon längst aufgebraucht sein dürften, litten die Geiseln Hunger und Durst. Die Aktion werde nicht lange dauern, die Geiseln sollten durchhalten wie sie selbst auch, erklärten die Terroristen süffisant. Erst gegen Abend durfte die als äußerst Armee-kritisch bekannte Journalistin Anna Politkowskaja den Gefangenen Nahrung und Wasser bringen – ein Anzeichen dafür, dass die Geiselnehmer noch länger durchhalten wollen.
Als weitere Vermittler gingen am Abend die Schlagersängerin Alla Pugatschowa, der ehemalige inguschetische Präsident Ruslan Auschew, der tschetschenische Duma-Abgeordnete Aslanbek Alachanow und Ex-Premierminister Jewgeni Primakow zu den Geiselnehmern. Doch sie alle kehrten ohne wesentliche Ergenbnisse zurück – Geiseln brachten sie jedenfalls nicht mit.
Auch ein russisches Fernsehteam konnte im Lauf des Tages in das Gebäude. Es durfte aber nur mit sechs weibliche Geiseln in einem Nebenraum sprechen. Mowsar Barajew, der Anführer der Geiselnehmer, trat als einziger unmaskiert auf. Das russische Presseministerium untersagte eine Ausstrahlung des Interviews im Originalton. Brajews indirekt wiedergegebenen Aussagen brachten aber keine neuen Erkenntnisse: Das bis an die Zähne bewaffnete Terrorkommando ist bereit zu sterben und sieht seine Mission offenbar bereits als erfüllt an. Als Forderung steht weiterhin nur der russische Truppenabzug aus Tschetschenien im Raum, aber konkrete Bedingungen für dessen Umsetzung werdne nicht genannt. Auch beteuerten die Besetzer, sie handelten auf Weisung des früheren tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow und des tschetschnischen Warlords Schamil Bassajew.
Maschadows doppeltes Spiel
Maschadow seinerseits hatte nach Beginn des Dramas erklären lassen, er verurteile den Gewaltakt und habe nichts damit zu tun. Der russische Geheimdienst veröffentlichte unterdessen ein Video mit einer Ansprache des untergetauchten Ex-Präsidenten. Darin spricht er siegesgewiss über den Tschetschenienkrieg: „In der Endphase werden wir noch eine einzigartige Operation durchführen, in der Art der Dschihad, und mit dieser Operation befreien wir unser Land von den russischen Agressoren“. Offenbar wollte Maschadow die Taktik der blutigen Geiselnahmen von Budjonnowsk und Kisljar aus den Jahren 1995 und 1996 wiederholen, die damals tatsächlich zum vorübergehenden Abzug der russischen Truppen beitrugen.
Darüber ob und wie jetzt mit Maschadow direkt verhandelt werde, gab es aus dem russischen Krisenstab höchst widersprüchliche Aussagen. Bisher hatte der Kreml immer jegliche Kontakte mit dem Rebellenführer abgestritten und abgelehnt; unter der Hand sie aber doch immer wieder gehabt. Allerdings ist Maschadows Autorität unter den ebenso radikal-islamischen wie geschäftstüchtigen tschetschenischen Warlords keineswegs unbestritten.Unter dem Druck der Geiselnahme wird es Putin jetzt wohl erst recht nicht zu offiziellen Kontakten oder gar „Friedensgespächen“ kommen lassen, inoffiziell aber umso intensiver in Tschetschenien sondieren lassen. Klar ist: Nur auf dem Umweg über einflussreiche Fürsprecher aus den tschetschenischen Clans können die Geiselnehmer noch zum Aufgeben bewegt werden. „Sie entscheiden nichts selbst, sie warten auf Anweisungen aus Tschetschenien“, so ein britischer Journalist, der ebenfalls vorgelassen worden war.
Eine Forderung der Gangster wurde nicht vom Staat, sondern von den Angehörigen der Geiseln erfüllt: Ohne Genehmigung veranstalteten etwa 100 Menschen am Rande des gesperrten Roten Platzes eine Kundgebung, in der sie von der Staatsführung Frieden für Tschetschenien einforderten. Die Kundgebung wurde schließlich von der Polizei aufgelöst. Demonstrationen seine jetzt nicht am Platze, jeder könne seine Meinung frei im Fernsehen äußern, erklärte die Sozialministerin Valentina Matwijenko.
Wenn Bürger Rache nehmen wollen
Sorgen macht der Regierung aber auch die steigende Aggression in der Gesellschaft. Im Gebiet Twer wurde eine Bürgerwehr aufgelöst, die über eine dortige Siedlung von mehreren hundert Tschetschenen herfallen wollte. Die russische Miliz, sonst nicht gerade zimperlich im Umgang mit „Personen kaukasischer Nationalität“, richtete eine Telefon-Hotline ein, auf der rassistische Übergriffe gemeldet werden können. Bisher kam es dazu nicht öfter als sonst in Russland – weil die meisten im Lande lebenden Kaukasier sich dieser Tage schon nicht mehr aus dem Haus trauen.
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