Moskau/Kiew. "Heute kommen wir aus den Unterständen und gehen zum Angriff über", hatte ein Oppositionssprecher kurz vor der Urteilsverkündung auf der Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude erklärt. Mit dem Urteil setzt sich die Opposition auf ganzer Linie durch. Am 26.12. soll nur die Stichwahl wiederholt werden, verfügten die Richter. Berufung ist nicht möglich.
Die Richter brauchten heute nach den Zeugenaussagen und Plädoyers noch sieben Stunden Beratungszeit, um ihr Urteil zu finden und zu formulieren, während sich eine immer grösser werdende Menschenmenge mit orangenen Fähnchen vor dem Gerichtsgebäude sammelte.
Viktor Janukowitsch, der bis heute abend noch als offizieller Wahlsieger galt, hüllt sich in Schweigen. Die Frage ist, ob der angeschlagene Vertreter des Ostens überhaupt noch mehr zu Stande bringt, als rein formal anzutreten.
Altpräsident Leonid Kutschma jedenfalls hatte sich anscheinend schon vorher mit dem Urteil abgefunden, obwohl er sich noch gestern abend für eine Wiederholung der gesamten Wahlprozedur ausgesprochen hatte. "Je länger die Krise sich hinzieht, desto schlimmer sind die Verluste für die Wirtschaft", sagte er heute.
Nach den vorgestern erzielten Kompromiss-Vereinbarungen müsste von Kutschma jetzt auch schon eine politische Strukturreform eingeleitet werden, die die Position des Regierungschefs stärkt und das Präsidentenamt schwächt.
Erst Regierung des Volksvertrauens und dann Elfmeterschiessen
Die Opposition wird jetzt darauf drängen, dass Kutschma die Entlassungsurkunde für Premier Janukowitsch unterschreibt, eine \"Regierung des Volksvertrauens\" bildet und so Janukowitsch wichtige Wahlkampfresourcen aus der Hand nimmt.
Juschtschenko hat auf jeden Fall die besseren Chancen, das \"Elfmeterschiessen\" zu gewinnen, wie er die Stichwahl nannte. Zumal der blauweisse Osten und Süden keine überzeugende Führungsfigur hat. Weder Janukowitsch noch sein nicht minder aufgebrauchter Übervater Kutschma taugen dazu.
Die Krise ist trotzdem längst nicht überwunden, sie geht nur in ein neues Stadium und auf eine andere Ebene über. Die Stichwahlwiederholung dürfte trotz Prestigegewinn für Juschtschenko die politische Spaltung der Wählerschaft im Prinzip reproduzieren.
Die Hauptfrage wird jetzt, ob sich der blauweisse Südosten vom orangenen Kiew aus regieren lassen will.
Oder mit welchem Nachdruck die Industriezentren, die drei Viertel des Bruttosozialproduktes erzeugen, auf einer Föderalisierung der Ukraine bestehen werden. Beziehungsweise, wie weit Juschtschenko, wenn er denn gewinnt, diesen Regionen Selbstständigkeit einräumt.
Dass Putin jede Kiewer Kröte schlucken muss, ohne mit der Wimper zu zucken, steht allerdings ausser Frage.
Panzerdivisionen wird er nicht schicken, nach dem Unheil, das schon seine Berater-Kohorten angerichtet haben. Interessant wird, welche Konsequenzen er daraus zieht. \"Das letzte Wort hat das ukrainische Volk\", hatte er zu Kutschma gestern am Flughafen in Moskau gesagt.
(gim/.rufo)
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