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05-11-2004 Politik

Beslan: Angehörige verscheuchen Staatsanwalt

In der Schule von Beslan: Ein Terrorist vermint die Turnhalle (foto: newsru.com)Von Lothar Deeg, St. Petersburg. Die Ex-Geiseln und Angehörigen der in Beslan umgekommenen Menschen fühlen sich von den Ermittlungsbehörden verraten und verkauft. Bei einem Treffen mit dem obersten Staatsanwalt Südrussland wurden die Behörden der Lüge beschuldigt: Nach Überzeugung der Beslaner waren weit mehr als 32 Terroristen in der Schule. Auch sollen Uniformierte überlebende Geiseln zu Falschaussagen gezwungen haben.

Lange schon hatten die Menschen in Beslan auf ein Treffen mit dem Präsidenten Nordossetiens, Alexander Dsasochow, gehofft. Als dann am Mittwoch Abend letztlich eine Versammlung im Kulturhaus von Beslan einberufen wurde, drängten sich etwa 1.000 Menschen in den Saal. Doch das Oberhaupt der Republik, den viele in Beslan als einen der Hauptverantwortlichen für den blutigen Ausgang des Dramas sehen, blieb aus: Ranghöchster Vertreter der Behörden war der für Südrussland zuständige Vize-Generalstaatsanwalt Nikolaj Schepel.

Doch der „Prokuror“ hatte einen schweren Stand: Einige der schon wenige Tage nach der Tragödie Anfang September verbreiteten – und seitdem nicht revidierten - offiziellen Informationen über die Geiselnahme stimmen nicht mit dem überein, was die Menschen in Beslan gesehen und gehört haben wollen: Als Schepel erklärte, dass nach dem Kenntnisstand der Ermittler die Zahl der Geiselnehmer 32 betrug und diese alle ihre Waffen und Munition selbst mit in die Schule gebracht hätten, „explodierte der Saal“, so die Zeitung „Kommersant“. Das gleiche wiederholte sich, als ein Beamter erklärte, die Geiselnehmer hätten während der drei Tage keine Forderungen gestellt.

Nachdem der Vizegeneralstaatsanwalt auf einige Fragen der Bevölkerung nicht hatte antworten können, stimmte eine Mehrheit der Anwesenden dafür, die offizielle Delegation des Saales zu verweisen. Damit wurde offensichtlich: Die Bevölkerung der vom Terror-Tod von 330 Mitmenschen gezeichneten Stadt hat kein Vertrauen und keine Hoffnung, dass die offizielle strafrechtliche Aufarbeitung der Geiselnahme die Wahrheit über das Drama ans Licht bringt.

Waren es 32 oder 65 Terroristen?

Nach Informationen der Staatsanwaltschaft sind von den 31 getöteten Terroristen bislang 17 identifiziert. Ein Geiselnehmer hat überlebt, er wird verhört. Doch in den letzten Tagen waren in Russland Stimmen laut geworden, die die Zahl von 32 Geiselnehmern in Frage stellten: Die „Komsomolskaja Prawda“ zitierte einen angeblichen Angehörigen eines der Sondereinsatzkommandos: Er will bei den Kämpfen in Beslan 49 getötete Terroristen gezählt haben. Darüber hinaus sei 13 Terroristen die Flucht gelungen. Und drei – nicht einer – der Angreifer sei lebend gefangen worden.

Dies würde bedeuten, dass das Terrorkommando mit 65 Männern und Frauen doppelt so stark war wie offiziell behauptet – und dass die Behörden zwei Verhaftete unter Verschluss halten. Einige Tage zuvor war auch aus der vom nordossetischen Parlament gebildeten Untersuchungskommission die Information verbreitet worden, es seien mindestens 50 Terroristen am Werk gewesen.

„Totale Korruption im Kaukasus“

Alexander Torschin, der Vorsitzende des von der Duma und dem Föderationsrat gebildeten parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu Beslan, erklärte, dass sein Gremium dies prüfen werde. „Wie können 32 Banditen, unter denen mindestens vier Invaliden waren und einige, die nicht mal richtig schießen konnten, über 1.000 Geiseln festhalten, das Umfeld beschießen, Männer unserer Sondereinsatzkräfte umbringen und noch lange Widerstand leisten?“, formulierte Torschin in einem Interview mit dem staatlichen Radio „Majak“ diese Frage.

Der Ermittlungsauschuss sei schon an zahlreichen Punkten auf Widersprüche gestoßen: „Die Aussagen der Amtspersonen und die Erzählungen der Zeugen und Betroffenen passen nicht zusammen“, so Torschin. Als eine der Hauptursachen, die den Terrorüberfall auf die nordossetische Kleinstadt und das Versagen der Behörden vor und während des Dramas erst möglich gemacht hat, bezeichnete der Vizevorsitzende des Föderationsrats „die totale Korruption im Nordkaukasus“: Gegen Schmiergeld könne dort auch ein „unprofessioneller, labiler und verschüchterter“ Mensch in die Reihen der Polizei aufgenommen werden.

Tee mit Terroristen: Die Direktorin wird denunziert

Aber auch die Aussagen der Zeugen aus Beslan müssen nochmals überprüft werden – nicht nur wegen der hohen emotionellen Belastung direkt nach den Geschehnissen und der Legendenbildung, die inzwischen das Erinnerungsvermögen vernebelt: So sind viele Leute in Beslan davon überzeugt, die 72 Jahre alte Schuldirektorin Lidia Zelijewa, die selbst schwer verletzt wurde, hätte mit den Kidnappern unter einer Decke gesteckt und mit ihnen „Tee getrunken“.

Bei www.aktuell.RU
• Scientology-Mitarbeiter aus Beslan ausgewiesen (25.10.2004)
• Gelang 13 Beslan-Terroristen die Flucht? (04.11.2004)
• Scientology-Offensive in Beslan (20.10.2004)
• Beslan: Wollte Maschadow die Geiseln retten? (28.10.2004)
• Beslan-Terroristen standen unter Drogen (19.10.2004)

Möglicherweise hat das Terrorkommando aber doch schon vor der Geiselnahme Waffen in der Schule versteckt. Denn während der stürmischen Versammlung im Kulturhaus meldete sich eine Ex-Geisel und sagte, nach der Geiselnahme hätten ihn zwei Unbekannte in Uniform aufgesucht und bedroht, den Ermittlern nur kein Wort über die Waffenverstecke in der Schule zu sagen. Ansonsten würde man ihn umbringen. Zwei weitere Beslaner bestätigten: Auch sie wollen Besuch von den beiden Finsterlingen bekommen haben. Das würde bedeuten, dass es vor Ort Mitwisser und Helfershelfer gab – und bis heute gibt.
(ld/.rufo)

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