St. Petersburg. Am Sonntag wurden die ersten 22 Opfer des Geiseldramas in Beslan beerdigt. Die offiziell bestätigte Zahl der Toten kletterte unterdessen langsam weiter - in beklemmende Höhen: Zuletzt waren es 335 - etwa die Hälfte davon Kinder. Über 450 Menschen liegen noch mit Verletzungen in Krankenhäusern. Wladimir Putin sprach tags zuvor in einer mit selbstkritischen Tönen durchsetzten Rede von einem „Angriff auf unser Land“ und einem „Krieg in vollem Ausmaß“.
Nach Daten des nordossetischen Bildungsministeriums waren in der Schule Nr. 1 in Beslan am 1. September bei der Feier zum Schuljahresbeginn 1181 Geiseln genommen worden. Etwa ein Drittel der in der Schule ohne Wasser und Essen zusammengepferchten Menschen überlebte das zwei Tage dauernde Martyrium nicht: In der Turnhalle lagen die Leichen dicht an dicht: Sie wurden von Bombensplittern zerfetzt, erschossen oder von Deckenteilen erschlagen, als die Turnhalle nach mehreren Explosionen einstürzte.
20 Geiseln, hauptsächlich Männer, waren von den Terroristen in einem Klassenzimmer geradezu hingerichtet und dann aus dem Fenster geworfen worden, berichtete Sergej Fridinski, oberster Staatsanwalt für Südrussland. Schon kurz nach dem Überfall hatten sich zwei Frauen aus dem Kommando mit Sprengstoffgürteln in einem Korridor zwischen zusammengetriebenen Familienvätern in die Luft gesprengt. „Unsere Schwestern haben schon gesiegt“, kommentierten die Geiselnehmer die Ermordung jener Geiseln, von denen sie glaubten, dass sie ihnen gefährlich werden könnten.
Hilfe aus aller Welt
Das Drama von Beslan löste neben Solidaritätsadressen aus aller Welt auch eine Welle von Hilfsangeboten aus: Aus Italien kam ein Flugzeug mit Medikamenten und Verbandsmaterial, auch aus den USA wurde eine Maschine erwartet. Kroatien, Tschechien und Georgien boten Kuraufenthalte für Ex-Geiseln an. Griechenland möchte in Beslan eine neue Schule bauen. Die älteste Geisel, der 74 Jahre alte Sportlehrer Jannis Kalidis, war Grieche. Er wurde erschossen, als er in dem plötzlich ausgebrochenen Chaos versuchte zu verhindern, dass die Terroristen ihre an den Basketballkörben hängenden Bomben zündeten.
Laut Fridinski zählte das Terrorkommando 32 Köpfe. 30 Leichen von Terroristen seien nach den insgesamt 13 Stunden anhaltenden Kämpfen in Beslan gefunden worden: „Unter den Banditen waren Tschetschenen, Inguschen, Kasachen, Araber und Slaven.“ Valeri Andrejew, Chef des für die Terrorabwehr zuständigen Inlandsgeheimdienstes FSB in Nordossetien, hatte noch vor dem Ende der Kämpfe über „neun Araber und einen Neger“ rapportiert, die von Spezialeinheiten bei Feuergefechten und dem anschließenden Sturm der Schule getötet worden seien. Kommandeur dieser internationalen Brigade soll nach inoffiziellen Angaben Magomed Jewlojew gewesen sein. Unter dem Funk-Rufnamen „Magas“ war er schon als einer der Befehlshaber des Terrorüberfalls auf die tschetschenische Nachbarrepublik Inguschetien im Juni in Erscheinung getreten sein.
Was wissen die Verhafteten?
Drei Verdächtige wurden verhaftet, doch ist noch unklar, ob es sich dabei um aktive Geiselnehmer oder deren Informanten außerhalb der Schule handelt. Ermittelt wird auch innerhalb der Polizei: Es gibt Indizien, dass Beamte den Geiselnehmern bewusst oder unbewusst halfen, zur Schule vorzudringen. Ihr enormes Arsenal an Waffen und Sprengkörpern hatten die nur mit einem Lkw an der Schule vorgefahrenen Terroristen vermutlich in den Sommerferien als Baumaterial getarnt und bei Renovierungsarbeiten im Keller versteckt. Den gleichen Trick hatten vor zwei Jahren die Geiselnehmer im Moskauer Musical-Theater angewandt.
„Wir hörten auf, den Fragen der Verteidigung und Sicherheit die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und erlaubten der Korruption, die Justiz- und die Polizeibehörden zu infizieren“, sagte Wladimir Putin bei einem ebenso selbstkritischen wie entschlossenen Fernseh-Auftritt am Samstag. Russland sei durch den Zerfall der Sowjetunion nach innen und außen geschwächt gewesen und habe „kein Verständnis für die Komplexität und Gefährlichkeit von Prozessen bewiesen haben, die in unserem eigenen Land und in der Welt vor sich gehen“, sagte Putin in seiner Rede.
Der „Intervention des internationalen Terrors“ und einem von – nicht näher genannten – ausländischen Kräften auf diese Weise gegen Russland geführten „totalen, harten Krieg in vollem Ausmaß“ möchte Putin mit „Maßnahmen zur Stärkung der Einheit der Nation“ entgegen treten. Was er damit genau meinte, blieb offen. Aber die kommunalen Behörden reagierten schon: Am Montag in St. Petersburg und am Dienstag in Moskau, in Russland beides offizielle Trauertage, finden Kundgebungen gegen den Terror statt – aber nicht auf Bürgerinitiative, sondern von oben organisiert. Mehr oder weniger spontane Versammlungen gegen die Geiselnahme hatte es zuvor nur in Tschetschenien und Inguschetien gegeben.
Kompetenzprobleme im Antiterrorkampf
Auch soll es laut Putin Veränderungen in der Arbeit und Struktur der Sicherheitskräfte, besonders im Kaukasus, geben. Ein Ziel der Terroristen sei es gewesen, in diesem fragilen Gebiet innerethnische Spannungen zu schüren, hatte Putin zuvor bei einem Kurzbesuch in Beslan gesagt.
Dass es dort im Lager der Uniformierten heftige Defizite gab, war offensichtlich: Es war nicht gelungen, den Einsatz der teils aus Freiwilligen bestehenden nordossetischen Milizen mit den von diesen argwöhnisch betrachteten professionellen Antiterror-Einheiten zu koordinieren. Prompt verlor der auf Nicht-Einmischung orientierte Einsatzstab die Kontrolle, als die Lage nach den ersten Explosionen eskalierte. Die zur Rettung und zum Schutz der fliehenden Geiseln vorrückenden Bewaffneten gerieten über Kreuz und behinderten sich gegenseitig, klagte Ossetiens FSB-Chef Andrejew. Der nordossetische Innenminister reichte als Reaktion auf das Geschehen am Sonntag seinen Rücktritt ein.
(ld/rufo)
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