Von Karsten Packeiser, Moskau. Wenn sich zur Hauptverkehrszeit die Moskauer mehr schlecht als recht in einen städtischen Bus zwängen, hat nicht einmal jeder zweite seine Fahrt bezahlt. Renter, Afghanistan-Veteranen, Reserve-Offiziere, regelmäßige Blutspender und 53 andere Kategorien von Bürgern dürfen den öffentlichen Nahverkehr kostenlos nutzen. Doch damit soll bald Schluss sein.
Die russische Regierung plant die einschneidendste Sozial-Reform seit dem Zerfall der Sowjetunion. Wie viele Millionen Bürger genau Anspruch auf kostenlose Benutzung von Bussen und Straßenbahnen, Medikamente, Vergünstigungen bei Strom- und Wasserkosten und sogar beim Kauf von Brennholz und dem Besuch öffentlicher Badeanstalten haben, weiß selbst die Regierung nicht genau. Womöglich ist jeder zweite Russe von der Reform betroffen.
Dieses unübersichtliche Dickicht soll nun teilweise durch Geldzahlungen ergänzt werden. Ohnehin existierten viele Vergünstigungen längst nur noch auf dem Papier. Kostenlose Medikamente sind in den Apotheken oft nicht erhältlich. Auf jeden vom Staat finanzierten Sanatoriumsplatz kommen Dutzende Schwerbehinderte und Weltkriegsveteranen, die gesetzlichen Anspruch darauf hätten. Vielerorts erhalten die kommunalen Versorgungsunternehmen nicht einmal Ausgleichszahlungen dafür, dass Bürger Dienstleistungen kostenlos in Anspruch nehmen. “Wir haben keine andere Wahl, als die Vergünstigungen durch Geldzahlungen zu ersetzen”, erklärte Parlamentschef Boris Gryslow.
Verabschiedung im Eilverfahren
Mit der Zweidrittelmehrheit der Präsidenten-treuen Partei “Einiges Russland” im Rücken will Kreml-Chef Wladimir Putin das womöglich unpopulärste Gesetzespaket seiner bisherigen Amtszeit im Eiltempo durch das Parlament bringen. “Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein so wichtiges Gesetz in so kurzer Zeit fertig gestellt wurde”, so der unabhängige Duma-Abgerodnete Michail Sadornow.
Widerstand formiert sich unterdessen auf der Straße. Die Betroffenen befürchten nicht nur, dass die Preise für Medikamente und Wohnungsnebenkosten schneller steigen werden, als die Regierung verspricht. Viele Rabatte, etwa für Millionen Renter mit sozialistischen Best-Arbeiter-Orden, werden ersatzlos gestrichen. Auch das bereits heute symbolische Kindergeld im Gegenwert von zwei Fläschchen Babynahrung soll ganz wegfallen.
„Bevor die Vergünstigungen abgeschafft werden, müssten Renten und Durchschnittslöhne verdoppelt werden“, fordert Sergej Chramow, Vorsitzender des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes Sozprof. Hauptziel der Regierung müsse es sein, das „unverschämte“ Verhältnis zwischen Bruttosozialprodukt und persönlichem Einkommen der Bevölkerung in Russland zu begradigen.
Derzeit liegen die Durchschnittsrenten in Russland bei umgerechnet 60 Euro im Monat. Die Regierung plant für verschiedene Gruppen von Betroffenen Ausgleichszahlungen in Höhe von monatlich 15 bis maximal 100 Euro. Die Reformbemühungen der Regierung haben inzwischen bereits ein erstes Todesopfer gefordert. In Südrussland war ein verzweifelter Mann, der bei den Räumarbeiten in Tschernobyl verstrahlt worden war, in den Hungerstreik getreten, weil er nicht wusste, wie er ohne die Vergünstigungen überleben soll. Der seit Jahren an den Rollstuhl gefesselte 58Jährige wurde am Mittwoch beerdigt.
(epd)
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