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08-05-2003 Politik

Falin zeichnet düsteres Russland-Bild

V. Falin (Foto: www.biograph.comstar.ru)Von Kai Oppel, Erfurt. Korrupt, verfallen, verarmt – dem Ende nahe: Wenn der frühere sowjetische Botschafter in Bonn, Valentin Falin, heute in Deutschland über die derzeitige Situation in Russland spricht, dann zeichnet der inzwischen 76 Jahre alte Ex-Diplomat ein düsteres Bild seines Landes.

Gekleidet im schicken Anzug erscheint Valentin Falin am Rednerpult in einer kleinen Stadt im Osten Deutschlands. Der schlanke Mann positioniert sich am Mikrophon, rückt sich zurecht. Die rund 700 Zuhörer warten gespannt auf die Worte des früheren Botschafters. Im Saal herrscht Ruhe. Vor allem die Ostdeutschen schätzen Falin als einen Mitgestalter der Deutschen Einheit.

In fließendem Deutsch mit russischem Akzent beginnt Falin: „Ich möchte Ihnen Informationen zur Verfügung stellen – als Grundlage für ihre eigenen Gedanken.“ Nie habe er sich so frei gefühlt wie heute, seine Gedanken zu äußern. Deshalb rede er frei, ohne Manuskript. Nachdem er kurz zu aktuellen politischen Belangen wie dem Krieg im Irak gesprochen hat, spricht er über die Situation in Russland. Mit trauriger Stimme reiht er statistische Zahlen aneinander.

Die landwirtschaftlichen Erträge seien in den letzten zwölf Jahren um 40 bis 60 Prozent gefallen, die Wirtschaft produziere weniger als die Hälfte. Der Lebensstandard sei um das Zweieinhalbfache gesunken. „Hinzu kommt, dass Russland in den vergangenen zwölf Jahren Hunderttausende Experten verloren hat.“ 50 Prozent aller Kinder litten laut einer aktuellen Untersuchung an einer chronischen Krankheit. Falin präsentierte aktuelle Erhebungen: „3,5 bis 4 Millionen Straßenkinder, Alkoholismus ab 12 bis 14 Jahren, Prostitution ab 10 Jahren.“

Sein Land sei augenblicklich nicht in der Lage, hochtechnische und konkurrenzfähige Produkte herzustellen. „Das ist nicht einmal mit viel Kapital möglich“, sagte er resigniert. Russland befinde sich zwar noch nicht in einer Sackgasse, wohl aber in einer kritischen Phase. Hauptproblem seien ein fehlendes langfristiges Programm, die Verabschiedung halbherziger und aus dem Zusammenhang gerissener Gesetze sowie die Korruption im Lande. Der Staatsapparat werde im Umfang von 30 bis 40 Milliarden Dollar geschmiert. „Die Menschen verspotten die Privatisierung der Betriebe seit langem als Piratisierung.“ Viele Betriebe seien zu einem Tausendstel des Preises verramscht worden.

Falin spricht mit bangem Blick. Immer, wenn er eine Lage als ungewiss sieht, verwendet er das Wort „hoffentlich“. Die Zuschauer bekommen den Eindruck, die Zukunft Russlands hänge von einem Wunder ab. Als er seine Gedanken beendet, sagt ein russischsprachiger Zuhörer im Publikum leise und kopfschüttelnd zu sich selbst: „Viel zu negativ. Nichts Positives.“

Die meisten Zuhörer sind von den Worten des ehemaligen Botschafters beeindruckt. „Falin ist einer derer, die Insiderinformationen besitzen. Ich schätze ihn als jemanden, der Geschichte transparent macht“, sagt etwa der Zuhörer Gunther Buchtzik. Eine 43 Jahre alte Angestellte zeigt sich begeistert, „wie offen er über die Probleme in Russland spricht.“ Zugleich zeigt sie sich beunruhigt „über die Gefahren, die daraus entstehen können. Es hört sich an, als ob Russland vor einer nächsten Oktoberrevolution steht. “

Falin gehört zu einem gesuchten Partner der internationalen Politik im Westen und zählt zu den besten Kennern Deutschlands im Kreml. Er war Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU in Moskau und Journalist. In Deutschland hat auch Falins Interesse für Kunst Aufmerksamkeit erzeugt – er kaufte bedeutende Werke der Moderne. Falin lebt mit seiner Familie überwiegend in der Nähe von Hamburg.

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