St. Petersburg. Auch wenn es die Staatsmacht in Russland nicht gerne sieht – kaum ist etwas Gras über das Thema darüber gewachsen, ist die fatale Moskauer Geiselbefreiung wieder auf dem Tisch: Die Partei „Union der Rechten Kräfte“ untersuchte auf eigene Faust den Sturmangriff auf das Moskauer Musical-Theater, der 128 Geiseln das Leben kostete. Ihr Fazit: Nicht der Gaseinsatz des Sonderkommandos, sondern erst Chaos und Schlamperei bei der Evakuierung kosteten den Opfern das Leben.
Da das russische Parlament in trauter Loyalität zum Kreml auf die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verzichtete, zog die liberale Partei die Anhörungen in einer „gesellschaftlichen Kommission“ in eigener Regie durch. Parallel ermittelt weiterhin die Staatsanwaltschaft Hintergründe und Abläufe des Geiseldramas von Ende Oktober, als eine Gruppe tschetschenischer Terroristen etwa 700 Zuschauer und Mitwirkende des Musicals „Nord-Ost“ in seine Gewalt brachte. Der Terrorakt endete nach drei Nächten mit dem Sturm des Theaters: Dabei wurde in hoher Konzerntration ein Betäubungsgas in den Zuschauersaal geleitet, dass Terroristen wie Geiseln ohnmächtig werden ließ.
Seine Partei erhebe keine Vorwürfe gegen die Einsatzkräfte, die das Theater stürmten und auch nicht gegen die Ärzte, die die Geiseln später in den Kliniken behandelten, erklärte SPS-Co-Vorsitzender Boris Nemzow. Als verhängnisvoll erwies sich das aber gesamte Geschehen dazwischen: „Der Hauptgrund für die erhöhte Opferzahl unter den im Verlauf des Sturms geretteten Geiseln waren Nachlässigkeiten der verantwortlichen Personen, die für die Organsisation der Ersten Hilfe, des Abtransports in die Krankenhäuser und für die allgemeine Koordination der Rettungsaktion nach dem Sturm zuständig waren“, so lautet das Fazit des Untersuchungsreports.
Ein Gerichtsmediziner aus der Kommission erklärte, dass es sich bei dem Sturmangriff nur zweitrangig um eine Aktion zur Rettung von Menschenleben gehandelt habe; in erster Linie sollten die 41 Terroristen liquidiert werden. Festnahmen sollten offensichtlich nicht gemacht werden, was jetzt wiederum eine komplette gerichtliche Aufarbeitung des Geschehens ausschließt.
„Wenn alle sachkundig gehandelt hätten, wären nicht 120, sondern vielleicht zehn Menschen ums Leben gekommen“, so der SPS-Vizefraktionsvorsitzende Boris Nadeschdin über die verhängnisvolle Rettungsaktion. Die Experten kamen zu dem Schluss, dass die meisten der geretteten, aber ohnmächtigen Geiseln während des Transports ins Krankenhaus starben. Zu einem großen Teil geschah dies aus einem völlig banalen Grund: Wegen falscher Lagerung auf dem Rücken oder im Sitzen erstickten sie an ihren in den Rachen gerutschten Zungen.
Während die Moskauer Behörden den Sturmangriff und die Rettungsaktion anschließend als blendend koordiniert darstellten, summierten die von SPS angehörten Experten eine Mängelliste aus zwölf Punkten: So wurde – auch vor den Ärzten und Rettungskräften – zu lange geheim gehalten, dass und welches Betäubungsgas eingesetzt wurde. Deshalb hatten die Retter auch zu wenige Beatmungsgeräte zur Verfügung.
Für die medizinische Begutachtung und Erstversorgung der geretteten Geiseln wurde kein Sammel- und Sortierplatz eingerichtet. Stattdessen wurden viele Opfer in Omnibussen abtransportiert, in denen es wiederum an medizinischem Personal mit Reanimationskenntnissen fehlte. Als ein grobes Versäumnis des Einsatzstabes muss auch gelten, dass keine Militärärzte hinzugezogen wurden, die für die Versorgung von Gas-Opfern bekanntlich besonders qualifiziert sind. Die Behörden hatten die hektische Evakuierung der Geiseln damit begründet, dass bis zur Entschärfung aller Bomben rund um das Theater Explosionsgefahr bestand.
Angeblich aus Rücksicht auf die Anonymität der angehörten Exprten wollte die SPS auch nicht mit dem brisantesten Teil ihrer Erkenntnisse herausrücken – nämlich mit der Erörterung der Frage, wie und warum es überhaupt zu dem Aufmarsch eines solchen Terrorkommandos mitten in Moskau kommen konnte. Nemzow führte dies pauschal auf die Korrumpiertheit und den fehlenden Professionalismus der russischen Geheimdienste zurück.
Und Irina Chakamada, die zweite SPS-Co-Vorsitzende, sprach von einer „dritten Macht“ im Tschetschenienkonflikt, die dort neben den föderalen Kräften und den Separatisten agiere und nicht an einer friedlichen Regulierung interessiert sei: Sie habe ihre Leute im Militär- wie Zivilapparat und schöpfe die dortigen Öleinnahmen und sonstigen Finanzflüsse ab. Mit Terrorakten oder Militäraktionen würde diese dritte Kraft deshalb den Konflikt immer wieder neu anheizen. Ein Ende des Konfliktes gebe es erst dann, so Chakamada, wenn sich Präsident Putin zu einer kapitalen Säuberung des russischen Machtapparates entschließe – „aber wir zweifeln, dass er dazu den Willen aufbringt“.
(ld/rUFO)
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