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10-11-2002 Politik

Reformpolitiker Jawlinski sucht Anschluss an Putin

Von Gisbert Mrozek, Moskau. Der neue russische Regierungschef könnte demnächst Grigori Jawlinski heissen. Das zumindest ist eine Schlussfolgerung aus einem Artikel aus der Feder des Reformpolitikers, der dieser Tage auch in russischen Medien erscheinten wird. Gerüchte, Putin könnte Jawlinski, seinem Gegenspieler bei den Präsidentschaftswahlen, überraschend einen wichtigen Staatsposten übertragen, kursierten schon seit Wochen.
>> Der vollständige Jawlinski-Artikel auf russisch >>>


Jawlinski, der sonst für seine scharfzüngige und konsequente Kritik am Kreml bekannt war, schlägt nun dem Präsidenten ein Bündnis zur Modernisierung Russlands vor - für die nach seiner Ansicht die jetzige Regierung des Premierministers Michail Kassjanow das politische Haupthindernis darstellt.

Jawlinski war besonders in der Zeit des Geiseldramas Putin näher gekommen. Putin hatte Jawlinski, der wegen konsequenter Kritik am Tschetschenienkrieg im Kaukasus relativ hohes Vertrauen geniesst, als Vermittler eingeschaltet. Im Auftrag Putins hatte Jawlinski im Kreml zusammen mit Kreml-Kanzleichef Alexander Woloschin ein Szenario zur Geiselbefreiung erarbeitet. Jawlinskis Konzept wurde zwar später verworfen, Putin lobt den Reformpolitiker und ewigen Oppositionellen allerdings unerwarteterweise mit den Worten: "Wir haben uns einiges zu sagen."

In seiner Analyse zeichnet Jawlinski ein schwarzes Bild der wirtschaftlichen und politischen Sachzwänge für den russischen Präsidenten. Das russische Wirtschaftssystem, das unter Jelzin entstand, habe sich zwar gegenwärtig stabilisiert, könne aber, weil 50 Prozent des Staatsetats von Öl und Gasexporten abhängen, sehr schnell in eine noch tiefere Strukturkrise geraten. Die Regierung Kassjanow habe sich völlig erschöpft.

Der "nichtformalen" russischen Wirtschaft, die von den Stimmungen weniger Clans abhängig ist, entspreche eine "nichtformale" Staatsstruktur. Wirtschaft und Staat leben nicht nach Recht und Gesetz, sondern nach dem Gesetz des Stärkeren, nach persönlichen Beziehungen und ständig wechselnden Vereinbarungen. Dieses System könne zwar stabil sein, im Ergebnis sei Russland aber zur "Demodernisierung" verdammt.

Putin sei "von einer sehr konkreten politischen wirtschaftlichen korporativen Gruppe unter der Bedingung an die Macht gebracht worden, dass er ihr gegenüber zu Solidarität verpflichtet ist". Dennoch sei er aber eine ständige "potentielle Bedrohung für die Elite und ihr Regime".

Der russische Präsident beginne in den Mauern des Kreml unausweichlich, sich als Staatsmann zu empfinden. "Im Ergebnis entsteht ein Träger der gesamt-staatlichen Interessen und Werte. Vielleicht der einzige in der gesamten herrschenden politischen Elite. Dabei versteht er, dass er von denen eingeschränkt wird, die ihn an die Macht gebracht haben - und überhaupt nicht damit gerechnet haben, dass er sich als Staatsdiener fühlt. Wenn er Mut hat, dann kann er entschlossen handeln", schreibt Jawlinski. Er könne die Pressefreiheit wiederherstellen und eine Regierung bilden, die nicht den korporativen Clans der Schattenwirtschaft verpflichtet ist, um ein Abrutschen des Landes in den Hinterhof der Weltzivilisation zu verhindern.

Dies, so Jawlinski, sei vielleicht eine der letzten Chancen für Russland. Er sei nicht ganz davon überzeugt, dass "die Bojaren und die Generäle zwar schlecht sind, der Zar aber gut". Aber schliesslich habe sich vor 15 Jahren bereits einmal etwas ähnliches abgespielt, als das totalitäre sowjetische System verschwand.

Es gebe, schliesst Jawlinski, gegenwärtig keine Alternative zur Hoffnung auf den "guten Zaren", da die russische Gesellschaft zu schwach sei, sich selbst zu helfen. Es sei zwar unausweichlich, dass die Gesellschaft aufwacht. Das könne dann aber schon zu spät für Russland sein.

Für Putin könnte es tatsächlich interessant sein, den "ewigen Präsidentschaftskandidaten" Jawlinski zu sich zu holen, um seine eigene politische Handlungsfähigkeit zu erweitern. Er könnte Jawlinski einsetzen, um einer Lösung des Tschetschnienkonfliktes näher zu kommen - oder um Premierminister Kassjanow zu ersetzen, der als letzter schwergewichtiger Jelzin-Mann an der Staatsspitze gilt.

Noch unter Gorbatschow war Jawlinski 1990 einige Monate lang Vizepremier der Russischen Unionsrepublik gewesen. Er hatte sein radikales Wirtschaftsreformprogramm ("500 Tage") aber nicht realisieren können.

>> Der vollständige Jawlinski-Artikel auf russisch >>>

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