Von Alexej Dubatow, Moskau. Der inzwischen pensionierte Zollchef des Stockholmer Seehafens Frihamnen, Lennart Henricsson, brach zehn Jahre nach dem Untergang der Fähre Estonia das Schweigen. Supergeheime elektronische Geräte seien damit aus Russland herausgeschmuggelt worden, behauptet er.
Die Weisung kam von „oben“
Zwei Wochen vor dem Untergang der Estonia sei er von seinem Chef angewiesen worden, einen bestimmten LKW, der mit der Fähre kommen sollte, nicht zu kontrollieren, berichtete Henricsson schwedischen Fernsehjournalisten. Die Weisung komme von „ganz oben“, hieß es. Befehl war Befehl, er schrieb sich aber die Autonummer und den Namen des Fahrers auf. Da es eine grobe Verletzung der Dienstvorschrift war, schaute er auch in den Wagen hinein. Khakifarbene elektronische Geräte seien darin gewesen, sagt der Exzöllner.
Der Zöllner hatte von Anfang an Bedenken
Ein ungutes Gefühl habe ihn gequält, und er habe privat Erkundigungen eingezogen. Der Volvo gehörte einer Tochter der Elektronikfirma Ericsson, Ericsson ACCESS AB. Der Pass des Kraftfahrers war gefälscht. Eine Woche später wiederholte sich die Geschichte. Diesmal brachte die Estonia einen ganzen LKW voll elektronischer Geräte der russischen Armee. Darauf deutete die Lackierung hin. Eine dritte Ladung kam nicht, weil die Estonia eine Woche später unterging. Henricsson hatte den Verdacht, dass es mit der geheimnisvollen Ladung zu tun hatte, schwieg aber, weil er damals noch im Dienst war.
Schlechtes Gewissen und Pflichtgefühl
Er sei schließlich an die Öffentlichkeit getreten, weil bei der Katastrophe 852 Menschen ums Leben kamen, darunter seine Freunde, allen voran der Estonia-Kapitän Arve Andreson, dessen guten Namen er verteidigen wolle, sagte Henricsson. Es hatte geheißen, schuld seien Konstruktionsfehler des Schiffes oder Fehler der Besatzung, die an Bord stehende Autos angeblich nicht genügend befestigt haben soll. Er kam beim Vergleichen verschiedener Berichte zu dem Schluss, dass es sich um eine Explosion handeln musste.
Er ging zu seinem früheren Vorgesetzten, und die Journalisten gaben ihm ein Aufnahmegerät mit. Der Exchef riet Henricsson, nicht zu quatschen. Die Sache sei zwielichtig. „Mach dir aber keine Sorgen, es war kein Sprengstoff, sondern irgendein alter Plunder von den Russen“, sagte er. Die Reporter bohrten weiter und stellten fest, dass die Ericsson ACCESS AB, die es nicht mehr gab, seinerzeit Kontakte zur supergeheimen Abteilung KSI des militärischen Abschirmdienstes Schwedens unterhielt.
Eingespielter Spionagekanal
Die Firma montierte 1994 Mobiltelefonstationen im russischen Leningrader Gebiet. Die erforderlichen Ausrüstungen wurden aus Schweden über Estland geliefert und wieder zurückgeschickt, falls sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Geheimdienstler nutzten gelegentlich diesen Kanal, um interessante militärische Geräte herüberzuschaffen. Das bestätigte den Journalisten der frühere schwedische Militärattache im Baltikum. Die russischen Kollegen waren von diesem Treiben nicht gerade begeistert und nach Kräften bemüht, mit allen Mitteln entgegenzuwirken.
Freiwildzeit für Schmuggler und Spione
Die russischen Grenzen seien damals löchrig gewesen, schrieb dazu die Moskauer Tageszeitung „Kommersant“, die die Henricsson-Geschichte nacherzählte. In den Laderäumen der Estonia habe der Zoll gelegentlich nicht nur Zigaretten und Alkohol, sondern auch radioaktives Material entdeckt. In jenem Jahr 1994 fand man einmal einen Container mit 64 darin zusammengepferchten illegalen Immigranten, die nach Westeuropa wollten.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Journalistenversion, die Estonia sei samt geheimen Militärgeräten durch eine Explosion versenkt worden, gar nicht so abwegig. Die ganze Wahrheit wird man wohl nie erfahren, weil das Wasser im Sumpf internationaler Geheimdienste, der die Fähre verschlang, trüb und undurchsichtig ist. Es gab bisher zumindest keine offizielle Stellungsnahme.
(adu/.rufo)
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