Von Karsten Packeiser, Moskau. Nach dem Störfall im Atomkraftwerk von Balakowo bleibt unklar, was in der Freitagnacht eigentlich geschah. Die Behörden versicherten, es sei keine Radioaktivität ausgetreten, als der Reaktor abgeschaltet werden musste. Er ist inzwischen wieder am Netz. Aber die Panik unter den Anwohnern in der Wolga-Region zeigt: Die Betroffenen trauen den Behörden nicht.
Bisher haben auch Umweltorganisationen keine Hinweise auf eine erhöhte Radioaktivität in der Umgebung des Kraftwerks. Doch als zwei große Fernsehsender am Freitagmorgen über den Defekt dreier Kühlwasserpumpen und die Abschaltung des Reaktorblocks berichteten, befürchteten viele Bewohner das Schlimmste. Die Einwohner des in Windrichtung fünf Kilometer vom AKW entfernten Dorfes Matwejewka wurden aufgefordert, Jodtabletten einzunehmen und nicht ohne besonderen Grund auf die Straße hinauszugehen.
Provokateure starten Internetseite
Die Kraftwerksbetreiber warteten mit einer ersten offiziellen Erklärung einen halben Tag. Da waren Jodtabletten in den Apotheken der ganzen Region längst ausverkauft. Mehrere Personen, die aus Angst vor radioaktiven Schäden vermeintlich hilfreiche Jodlösungen getrunken hatten, mussten mit schweren Vergiftungen in Kliniken eingeliefert werden. In der 200 Kilometer entfernten Lenin-Geburtsstadt Uljanowsk wurden Schulen und Kindergärten geschlossen.
Die Behörden nahmen inzwischen Ermittlungen gegen vermeintliche Provokateure auf, die mit Telefonanrufen vor den möglichen schweren Folgen des Störfalls warnten. Außerdem dürften die Macher einer kurzfristig eingerichteten Internetseite Probleme bekommen, die behaupteten, bei dem Störfall seien vier Arbeiter ums Leben gekommen. Nach Ansicht der regionalen Katastrophenschutz-Behörden hatten die Panikmacher ein handfestes Interesse: Im Verwaltungs-Gebiet Saratow, zu dem die Stadt Balakowo gehört, stehen Gouverneurswahlen vor der Tür. Amtsinhaber Dmitri Ajazkow gilt als feuriger Befürworter der Atomkraft und unlautere Wahlkampfmethoden haben in der russischen Provinz Hochkonjunktur.
Umweltaktivisten dürfen nicht zur Pressekonferenz
„Das Desinteresse daran, die Bevölkerung aufzuklären und die Gewohnheit, stattdessen Informationen zu verschweigen – das alles führt zu Gerüchten und Zweifeln an den offiziellen Angaben über das AKW“, klagt dagegen Anna Winogradowa von der Filiale der Russischen Nauturschutz-Gesellschaft aus Balakowo. In einem offenen Brief forderten Umweltschützer inzwischen die russische Atomenergie-Behörde auf, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen auf das Gelände des AKW zu lassen, damit die dort Strahlenmessungen durchführen und sich ein Bild von der Lage machen könnten. Die die Umweltaktivisten durften noch nicht einmal an einer Pressekonferenz des AKW-Managements teilnehmen, so Winogradowa.
Eine Informationspolitik des eisigen Schweigens hatte die russische Führung bereits 1986 nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 eingeschlagen. Zehn Tage lang schwiegen die staatlich gelenkten sowjetischen Medien damals völlig über das Unglück und auch später tat die Kreml-Führung alles, um das Ausmaß der Tragödie herunterzuspielen. Am 1. Mai marschierten bei den offiziellen Maidemonstrationen in Kiew tausende von Werktätigen durch die Straßen, als wäre im nur hundert Kilometer entfernten Tschernobyl nichts passiert.
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