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03-09-2004 Panorama |
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Wir bekamen kaum Luft, so stickig war es
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André Ballin, Moskau. Halbnackt fliehen die Geiseln aus der Schule. Todesangst steht den meisten ins Gesicht geschrieben. Plötzlich peitschen Schüsse durch die Luft, die Menschenmenge vor dem Schulgelände schreit auf. Die Jugendlichen laufen um ihr Leben, sie wollen der Hölle entfliehen. Über 1.000 Menschen hatten die Kidnapper auf engstem Raum eingepfercht. Die Gefangenen durften weder essen noch trinken.
„Als die Turnhalle zusammenstürzte sind wir nach allen Seiten auseinander gelaufen.“ erzählt nach der Flucht ein Jugendlicher dem russischen Fernsehsender NTW. Er ist circa 14 Jahre alt, seine rechte Hand ist verbunden. Seine Augen sind vor Schrecken noch groß aufgerissen. „Sie haben vom Dach auf uns geschossen“, fällt ihm sein Freund aufgeregt ins Wort. Beide sind aufgeregt, konfus, jedoch ganz offensichtlich froh, relativ heil entkommen zu sein.
Drinnen war es die Hölle
Wie die Lage drinnen aussah erzählt eine junge Frau, die die Kidnapper schon am Vortag freigelassen hatten. Sie durfte zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter gehen, doch zwei Mädchen, elf und 14 Jahre alt, musste sie zurücklassen.
„Wir bekamen kaum Luft, so stickig war es,“ erzählt sie, „Es war eng und es waren unheimlich viele Menschen in dem Gebäude“, sagt sie, viel mehr als die 350 Geiseln, von denen die Behörden offiziell sprachen. „Im Fernsehen haben sie gesagt, dass wir 350 sind. Doch das ist nicht wahr. In der Schule sind mindestens 1.500 Geiseln.“
Die meisten von ihnen sind auf engstem Raum in der Turnhalle zusammen gepfercht. Sie müssen auf dem Fußboden sitzen. Obwohl die Fenster eingeschlagen wurden, ist es stickig und heiß in dem Saal. Wohl auch wegen der Hitze legen viele ihre Kleidung ab. Darum werden sie später halbnackt aus dem Gebäude laufen.
Todesangst unter den Geiseln
Zu der Hitze kommt die Angst. Die Kidnapper sind maskiert. Sie schießen in die Decke, erschrecken ihre Opfer fast zu Tode. Vor allen Dingen, wenn die kleineren Kinder anfangen zu weinen, geben sie immer wieder Schüsse ab, um Ruhe herzustellen. Eine mörderische Ruhe.
Hin und wieder schießen die Geiselnehmer auch nach draußen. In der Nacht beschießen sie das Gelände rund um die Schule mit Maschinenpistolen und Granatwerfern. Sie glauben, dass die Sicherheitskräfte stürmen wollen. Ein Zeichen dafür, dass auch sie hochgradig nervös sind.
Das Gelände haben sie vermint, ein Entkommen scheint unmöglich. Von Zeit zu Zeit rufen die Kidnapper einzelne Jugendliche ans Fenster und stellen sie als „lebende Schutzschilde“ dort auf. Da Männer und Frauen getrennt voneinander gehalten werden, weiß niemand, wie es den Familienangehörigen geht. Auch Stunden nach der Befreiung wissen viele nichts über das Schicksal ihrer Verwandten, da die Verletzten ohne Kleidung und Dokumente wahllos in die Krankenhäuser eingeliefert werden.
Am Anfang ging es ganz schnell
Wie die Geiselnehmer die Schulfeier stürmten, haben die meisten der Opfer kaum mitbekommen: „Das ging alles so schnell, dass viele nicht begriffen, was los war. Innerhalb von zwei –drei Minuten passierte es. Wir hatten gerade mit der Einschulung begonnen, da hörten wir plötzlich Schüsse,“ sagt eine Frau. Dann wurden die Geiseln in der Turnhalle zusammen getrieben.
Die Kidnapper verweigern den Gefangenen das Essen. Dem Vermittler Leonid Roschal teilen sie am Freitag zynisch mit, dass alle Geiseln auf Trinkwasser und Lebensmittel verzichtet hätten. Anfangs gaben sie den Kindern zumindest noch Leitungswasser zu trinken, das mit Eimern aus den Toiletten in die Turnhalle gebracht wurde. Später verboten sie ihren Opfern dann sogar das Trinken, angeblich weil die Behörden nicht verhandeln wollten.
Zeugen berichten von Hinrichtungen
Die Kinder durften zumindest gruppenweise auf die Toilette gehen. „Doch als einige der Schüler aus dem Wasserhahn trinken wollten, haben die Terroristen das im Ansatz unterbunden“, erzählt die Frau. Die Kidnapper behaupteten, sie hätten die Wasserleitung vergiftet. Einer anwesenden Ärztin unter den Geiseln gestatteten die Terroristen, sich um die Kranken und an Schwäche leidenden Opfer zu kümmern. Weitere medizinische Hilfe verweigerten sie jedoch. Auch die Schuldirektorin, die 70jährige Lydia Zalijewa bekam keine Medikamente. Sie und einige andere Lehrer leiden unter Diabetes. Einige Verletzte sollen angeblich sogar hingerichtet worden sein.
Viele Geiseln erschreckt auch der Anblick der Leichen. Bis zu 16 Menschen waren bereits beim Sturm auf die Schule am 1. September getötet worden. Ihre Leichen liegen auf dem Schulhof. Obwohl die Kidnapper die Erlaubnis gegeben haben, die Leichen wegzuschaffen, wollen sie das Gelände noch verminen. Dabei explodiert eine der Minen, ein Teil des Gebäudes stürzt ein, die Kinder fliehen. Obwohl ihnen die Terroristen in den Rücken schießen, gibt es kein Halten mehr.
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