Von Lothar Deeg, St. Petersburg. Auch wenn hunderttausende russischer Emigranten in Berlin oder New York einen anderen Eindruck vermitteln – Russland ist ein Einwandererland: „In den letzten 13 Jahren sind bei uns 11 Millionen Migranten zugezogen und sechs Millionen Menschen ausgewandert“, so diese Woche Russlands Nationalitätenminister Wladimir Sorin. „Bei der Zahl der Einwanderer liegen wir nach den USA und Deutschland auf dem dritten Platz.“ Dies ist nur eines der unerwarteten Ergebnisse der Volkszählung, die vor einem Jahr in Russland stattfand. Die 145,2 Millionen „Russländer“ erwiesen sich als erstaunlich „buntes Völkchen“.
Die erste Volkszählung seit 1989 war eine besonders wichtige, denn nach dem Zerfall der Sowjetunion und der totalen Veränderung des Wirtschaftssystems tat eine Generalinventur der Bevölkerung besonders Not. Inzwischen liegen die wesentlichen Ergebnisse vor: Trotz niedriger Geburtenrate und geringer Lebenserwartung ist die Bevölkerung Russlands weniger stark geschrumpft als angenommen. Zwar liegt sie um 1,8 Millionen niedriger als 1989 – aber zugleich um 1,8 Millionen höher, als die Statistiker selbst erwartet hatten. Die Zahl der in Russland lebenden Völker und Völkerschaften hat sich sogar auf 160 erhöht. Zu Sowjetzeiten ging man von 129 Völkern auf dem Boden Russlands aus. „Verloren“ habe man keines davon, Russland bleibe eines der ethnisch viefältigsten Länder der Welt, so Sorin.
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Russisches Statistik-Komitee |
• Hauptergebnisse der Volkszählung 2002 (russ.)
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Allerdings – Statisiker sind keine Ethnologen und tun sich etwas schwer zu definieren, was nun ein Volk ist und was nicht. Erst recht bei dieser Art der Datenerhebung: Denn bei der Volkszählung hatte jeder Befragte die Möglichkeit, seine Volkszugehörigkeit nach eigenem Gutdünken zu definieren – und sei es Skythe oder Hobbit. Das staatliche Statistikkomitee hatte deshalb zunächst 800 verschiedene Varianten von „Völkerschaften“ zu verdauen. So bezeichneten sich laut Sorkin fünf Bürger als Polowzer und sieben als Petschenegen – turkstämmige Reitervölker, die vor 1000 Jahren einmal über die Wolgasteppen preschten.
Keine Gnade fanden auch die etwa 140.000 Menschen, die sich stolz als „Kosaken“ bezeichnet hatten: „Die Kosaken sind kein eigenes Ethnos“, so ein führender Statistiker. Die Nachkommen einstiger Wehrbauern in Südrussland und Sibirien wurden den Russen zugeschlagen, die fast exakt 80 Prozent der 145,2 Millionen „Russländer“ stellen. Zweitgrößtes Volk sind die muslimischen Tataren mit 5,6 Millionen. Auch unter ihnen fand sich ein neues separates Völkchen: 32.000 Tataren definierten sich als „Krjaschenije“ – „Getaufte“.
Zählt man die Angehörigen der traditionell muslimischen Völker zusammen, so stellen sie laut Sorkin 14,5 Millionen Menschen – genau 10 Prozent der Bevölkerung Russlands. Nach Religion oder Konfession wurde bei der Volkszählung aber nicht gefragt. Prompt widersprach auch das Oberhaupt des russischen Mufti-Rates, Scheich Rawil Gajnutdin, dem Nationalitätenminister: „Ich bin fest davon überzeugt, dass in Russland mindestens 20 Millionen Muslime leben“. Allein in und um Moskau arbeiteten auf Märkten und Baustellen etwa 2 Millionen meist illegale Einwanderer mohammedanischen Glaubens, die von der Volkszählung nicht erfasst worden seien.
Die Volkszähler zeigen sich aber dennoch überzeugt, auch die Zahl der illegalen Immigranten korrekt erfasst oder wenigstens hochgerechnet zu haben – obwohl sie unter der Bevölkerung Russlands nur 155.000 Bürger Aserbaidschans (statt der von manchen Experten prognostizierten Millionen) und 30.000 Chinesen fanden. Zweifellos ist Russland als Einwanderungsland vorrangig für ethnische Russen attraktiv, die aus anderen GUS-Republiken, vor allem aus Zentralasien, übersiedeln. Aber auch die Emigration hat ihre Spuren in der Nationalitäten-Statistik hinterlassen: Als Deutsche bezeichneten sich noch 600.000 Menschen (minus 30 Prozent), die Zahl der Juden ging sogar um 60 Prozent auf 230.000 zurück.
Fälschungsverdachte erntete die Volkszählung, als die offizielle Zahl der Tschetschenen bekannt wurde: Trotz zweier Kriege soll sich ihre Zahl von 0,9 auf 1,36 Millionen erhöht haben, was sie zum sechstgrößten Volk Russlands macht. Kritiker sprachen seinerzeit von einer Produktion „toter Seelen“ zwecks Verschleierung der ca. 100.000 Kriegsopfer. Die Statistiker erklären dies jedoch mit einer „katastrophalen Geburtenrate“ und der Lage im Kaukasus insgesamt: „Wenn die Zahl der Tschetschenen in letzter Zeit um 50 Prozent zugenommen hat, so wuchsen die Inguschen um 90 Prozent und die Lesginer in Dagestan um 60 Prozent“, so der Nationalitätenminister über die Nachbarn der Tschetschenen.
(ld/.rufo)
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