Von Stephanie Prochnow. Künstliche Erdbeeren und Peperoni hängen farbenfroh durchmischt mit anderen Obst- und Gemüse-Attrappen am Eingang zur Ausstellung „Artkonstitution“. Die Früchtegirlande von Juri Chorowski formt sich zu den Worten „My ne raby“ (Wir sind keine Sklaven) und formuliert mit dieser Aussage die Richtlinie der Schau im Moskauer Museum für zeitgenössische Kunst.
Freie Menschen mit garantiertem Grundgesetz – das sind die Bürger Russlands seit genau zehn Jahren. Zum Jubiläum der russischen Verfassung am 12. Dezember eröffnete das neue Moskauer Museum für zeitgenössische Kunst mit einem einmaligen Projekt: Über 100 Künstler – Stars der Szene ebenso wie Neulinge – haben mit viel Ironie, Humor aber auch Kritik die 137 Artikeln der Konstitution dechiffriert und die erste „illustrierte Ausgabe der russischen Verfassung“ geschaffen. Parallel zur Buchpräsentation eröffnete die Ausstellung, in der die meisten Original-„Illustrationen“ in bunter Folge versammelt sind.
Kein anderes Land der Welt kann mit einer „illustrierten Verfassung“ aufwarten. Das juristische Monumentalwerk verständlicher zu gestalten, war Ziel der über drei Jahre vorbereiteten Initiative von Kurator Piotr Wois. Die eigenwillige Bebilderung soll der russischen Bevölkerung ihre Rechte näher bringen. Darüber hinaus beleuchtet das Projekt die Schwierigkeiten, geltende Gesetze zu kontrollieren.
Auf dem Deckblatt des Buches ist ein Kissen aus Hermelinpelz abgebildet, das die russischen Nationalfarben ziert. Offensichtlich wünschen sich die Künstler Sergej Denisow, Iwan Kolesnikow und Tatjana Rubel, dass sich die Russen auf ihrem Grundgesetz sorglos zur Ruhe betten können.
Doch bisher entspricht das Leben in Russland längst nicht dem Ideal der Verfassung. In ihren „Illustrationen“ thematisieren die Künstler die Differenzen zwischen Theorie und Realität: Korruption, Bürokratie, freie Wahlen, religiöse Konflikte, Todesstrafe, Rassismus, Menschenhandel oder Prostitution werden ebenso angesprochen wie Fragen zur Abtreibung und Genmanipulation. Im Vordergrund stehen allerdings gesellschaftliche Probleme.
„Die russische Föderation ist ein sozialer Staat, dessen Politik ... die Bedingungen für eine freie Entfaltung der Menschen schaffen soll.“ Unter der Devise von Artikel sieben der Verfassung hat Tatjana Nasarenko in einer Ecke des ersten Saales ein seltsames Völkchen zusammengestellt: In Lebensgröße stehen hier Attrappen von Almosenempfängern, die den Moskauern täglich in der Metro begegnen: Ein Obdachloser, die Oma, deren Rente nicht reicht, eine Mutter die für die Operation ihres Kindes sammelt. Die stille Demonstration führt das Gesetz ad absurdum.
Mit ähnlicher Ironie illustrieren Swetlana Malyschewa, Boris Prudnikow und Juri Fesenkow Artikel 37. Die auf einem orientalischen Teppich gemalte „orientalische Schönheit“, die den Betrachtern ihr nacktes Hinterteil auffordernd entgegenstreckt, nimmt das gute Recht jedes Bürgers in Anspruch „seine Arbeitsfähigkeit frei zu nutzen.“
Auf einer in Soz-Art Manier gestalteten Kollage von Anatoli Orlows versinkt die „Titanic“ UDSSR in einem Meer aus Dollarnoten. Doch Artikel 75 der Verfassung hält fest: „Die Währungsunion der russischen Föderation soll der Rubel sein“.
Viele ausgestellte Kunstwerke begegnen dem Besucher nicht zum ersten Mal. Sowohl Alexander Winogradows und Wladimir Dubosarskis Monumentalgemälde „Neue russische Troika“, als auch die Fotografie, auf der Oleg Kulik eine überdimensionale Bulldogge melkt, tourten dieses Jahr durch Deutschland. Die Installation „Abacus“ von Sergej Schutow erhielt auf der Biennale von Venedig 2001 internationales Lob.
Da nur ein Teil der Gemälde, Fotografien, Kollagen, Zeichnungen, Skulpturen und Videoinstallationen extra für das Projekt angefertigt wurden, erscheint ihre Beziehung zum Grundgesetz manchmal konstruiert. Doch es hat auch Vorteile, dass für das Projekt Arbeiten eingereicht werden konnten, die nach dem 12. Dezember 1993 entstanden sind. So bietet die Zusammenstellung einen guten Einblick in zehn Jahre russische Kunst.
Die meisten „Illustrationen“ wurden von den Künstlern mit einem ironischen Augenzwinkern gestaltet. Zuweilen findet sich jedoch unverhohlene Kritik: Eine Fotografie von Oleg Smirnow zeigt russische Soldaten in Tschetschenien. Der dazugehörige Artikel 61 besagt: „Ein Bürger der russischen Föderation darf nicht aus Russland abgeschoben oder einem anderen Staat ausgeliefert werden.“
Solch derbe Rüffel lassen sich russische Politiker nicht gerne erteilen. Weder die liberalen Parteien Jabloko und SPS noch die Verwaltung des Präsidenten waren bereit, „Artkonstitution“ zu unterstützen. Kein Staatsmann wollte seinen Namen mit dem Kunstprojekt in Verbindung bringen. Selbst Kulturminister Michael Schwydkoi lehnt ab, ein Vorwort für die „illustrierte Verfassung“ zu schreiben. Fast scheint es, als hätten sich die Volksvertreter noch nicht ganz mit Artikel 29 anfreunden können – dem Recht auf freie Meinungsäußerung.
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Moskauer Museum für zeitgenössische Kunst |
Jermolajewski Pereulok 17
Metro: Majakowskaja
bis 12. Januar
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