Frankfurt/Moskau. Am Dienstagabend wird Christina Weiss, die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, gemeinsam mit dem russischen Medienminister Michail Lessin die Frankfurter Buchmesse eröffnen. Mit Frau Weiss sprach Ines Lasch über die Rolle der russischen Literatur, die Förderung russischer Autoren in Deutschland und ihre persönlichen Schriftsteller-Favoriten.
Werden Sie zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse anreisen und sprechen?
Ich werde die Buchmesse gemeinsam mit dem russischen Medienminister eröffnen. Meinen Rundgang unternehme ich zwei Tage später. Dabei werde ich auch den russischen Pavillon besuchen.
Werden Sie die Buchmesse auch privat besuchen?
Das kann man nicht trennen, denn ich bin Kulturstaatsministerin, aber auch eine Freundin der Literatur. Insofern gehe ich nicht nur in ministeriellem Auftrag zu den Verlagen, sondern immer auch als Liebhaberin guter Bücher.
Wer hat die russischen Autoren und Verlage eingeladen, die auf der Buchmesse präsentiert werden? Danach sollen zum Beispiel Viktor Pelewin und Wladimir Sorokin nicht anreisen.
An der Frankfurter Buchmesse nehmen über 200 Verlage und rund 100 russische Autorinnen und Autoren teil. Die russischen Verlage haben sich beim Presse- und Informationsministerium der Russischen Föderation (RF) beziehungsweise bei der Frankfurter Buchmesse direkt angemeldet. Die Autorinnen und Autoren wurden von der russischen Regierung oder von ihren Verlagen eingeladen, zu denen auch deutsche Verlage gehören, die russische Literatur verlegen. Auch Viktor Pelewin und Wladimir Sorokin gehören zu den Gästen.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die russische Literatur bei der Formierung einer russischen Zivilgesellschaft?
In jeder Gesellschaft hat die Literatur einen großen Einfluss auf die Bildung einer Zivilgesellschaft. In Russland hat sich rund 15 Jahre nach Perestrojka und Glasnost eine ungemein aktive Literaturszene entwickelt, in der es eine Vielzahl von Tendenzen und Gruppierungen gibt. Die Strömungen reichen von einem ethischen Realismus (Tolstaja, Tokarjewa, Ulitzkaja) über die postmodernen, parodistischen Texte (Pelewin) bis hin zu einer avantgardistischen, radikal-libertären Ästhetik, die schockieren will (Sorokin, Mamlejew, Jerofejew). Diese literarische Vielfalt tut einer Gesellschaft gut.
Gibt es Ihrer Meinung nach politisch nennenswerte russische AutorInnen?
Russische Autoren wie Tolstoj, Dostojewski, Puschkin oder Tschechow zählen zu den Klassikern der Weltliteratur. Sie sind weit über den Kreis der Literaturliebhaber hinaus bekannt. Ähnliches gilt auch für die russischen Autoren, die ihre Hauptwerke im Exil geschrieben haben, wie zum Beispiel Nabokov, Solschenizyn oder Brodsky.
Neben den „Klassikern“ und „Dissidenten“ hat sich in den letzten Jahren – wie ich bereits erwähnte - eine vielfältige russische Literaturszene entwickelt. Sie ist in der Sowjetunion aus der Opposition zum Sozialistischen Realismus hervorgegangen. Einige ihrer Vertreter haben im Verborgenen, im „Underground“ gewirkt und ihre Werke in Selbstverlagen („Samisdat“) verlegt. Dabei entstanden verschiedene Richtungen, die die Traditionen der Moderne auf ihre Art weiterentwickelten. Die russische Literatur war und ist politisch, dank ihrer ständigen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft.
Welches Buch eines russischen Autoren haben Sie zuletzt gelesen?
Es war das Buch „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“ von Swetlana Alexijewitsch.
Wer hat es Ihnen empfohlen?
Empfohlen hat es mir eine gute Freundin und Expertin jüngerer russischer Literatur.
Kennen und mögen Sie postsowjetische AutorInnen?
Als Leiterin des Hamburger Literaturhauses und Kultursenatorin der Hansestadt intensivierte sich mein Kontakt mit russischer Kultur naturgemäß. Ich habe damals viele russische Autorinnen und Autoren der Gegenwart kennen und schätzen gelernt. Die Vielschichtigkeit der Werke, in denen ich damals mit einer fremden Welt konfrontiert wurde, hat mich sehr beeindruckt und neugierig gemacht.
Ich möchte jetzt nicht auf einzelne Autoren eingehen oder sie besonders würdigen. Beeindruckt hat mich die Auseinandersetzung der Schriftsteller mit dem Sozialistischen Realismus, der in den achtziger Jahren in der Sowjetunion entstand und unter der Abkürzung SozArt in die Literaturgeschichte einging. Es war eine Absatzbewegung von der zentral gelenkten und zensierten Literatur der Sowjetzeit, die sich durch überspitzte Formulierungen und feine Ironie in den literarischen Werken widerspiegelte.
Zeigt Russland aus Ihrer Sicht tatsächlich "Neue Seiten" auf der Frankfurter Buchmesse?
Die Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse 2003 bildet für Russland einen der Höhepunkte der Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003/2004. Unter dem Motto „Russland – Neue Seiten“ will sich Russland als ein modernes, junges und kreatives Gastland vorstellen. Auf einer Fläche von rund 2500 qm werden sich im sogenannten russischen Pavillon - der Halle 5 auf dem Messegelände - 200 russische Verlage präsentieren. Unter den zahlreichen Autoren, die sich in der Mainmetropole angesagt haben, werden viele junge, bisher in Deutschland unbekannte Schriftsteller sein. Ich freue mich bereits jetzt auf meinen Besuch auf der Buchmesse, insbesondere im russischen Pavillon.
Was tun Sie in Ihrer Funktion dafür, um Kinder und Jugendliche an die russische Literatur heranzuführen? Gibt es in Deutschland spezielle Programme oder Projekte dafür? Wenn ja, welche?
Aufgrund der föderalen Gliederung der Bundesrepublik Deutschland sind für die Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen die Bundesländer zuständig. Spezielle Programme oder Projekte, um junge Menschen an die russische Literatur heranzuführen, sind mir nicht bekannt. Mit russischer Literatur beschäftigen sich in Deutschland vor allem Schülerinnen und Schüler, die an den Schulen Russisch lernen oder durch ihre Eltern an die russische Kultur herangeführt werden. Zu ihnen gehören auch die in Deutschland lebenden Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Russland, die ihre eigenen kulturellen Traditionen mit- und eingebracht haben und auf vielfältige Weise das kulturelle Leben und das künstlerische Schaffen unseres Landes bereichern.
Von ihnen gehen sicherlich auch Impulse aus, um sich mit der Sprache und der Kultur Russlands zu beschäftigen. Außerdem erhoffe und wünsche ich mir, dass auch die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003 - 2004 mit ihren zahlreichen Veranstaltungen in Deutschland das Interesse an der russischen Kultur wecken.
Welchen Einfluss haben Schriftsteller Ihrer Meinung nach auf die Meinungsbildung der Jugend und der Politiker?
(Zur Erklärung: In Russland haben am 23. Juli 2003 so prominente Schriftsteller wie Wladimir Wojnowitsch, Andrej Wosnessenski und Fasil Iskander scharf die neuen Lehrpläne für den Literaturunterricht an Schulen kritisiert. Aus der Liste der Pflichtlektüre wurden auf Beschluss des Bildungsministeriums wichtige Werke gestrichen, die die Vergangenheit Russlands/der Sowjetunion zum Inhalt haben, zum Beispiel Dr. Schiwago von Boris Pasternak, Gedichte von Anna Achmatowa. russland-www.aktuell.RU berichtete am 23. Juli.)
Ist so etwas in Deutschland denkbar?
Die Frage zum politischen Einfluss der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Bundesrepublik Deutschland kann nicht generell beantwortet werden. Bei ethischen und moralischen Fragen wird die Stimme der Intellektuellen jedoch in unserem Land erhört. Dies ist besonders in den großen gesellschaftlichen Debatten wie die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an militärischen Einsätzen in der Welt deutlich geworden. Auch bei anderen ethischen Fragen wie beispielsweise nach den Risiken und Chancen der Gentechnologie melden sich Intellektuelle zu Wort und ihre Stimme wird gehört.
Indessen ist die Bundesrepublik Deutschland zum einen als pluralistische Gesellschaft organisiert - das bedeutet, dass sich viele gesellschaftliche Gruppen und Organisationen an den politischen Meinungsbildungsprozessen beteiligen - und zum anderen föderal verfasst - dies gilt besonders für den Bereich der Kultur und der Bildung.
Deshalb ist nicht denkbar, dass die Änderung der Lehrpläne an den Schulen -eine Sache der Bundesländer - ohne größere öffentliche Diskussion erfolgt. Vielmehr würden sich in solche Diskussionen auch die betroffenen Verbände der Lehrerinnen und Lehrer, die Elternschaft und auch die Vertretungen der Schülerinnen und Schüler einbringen. Auch die Stimme der Intellektuellen würde gehört und geachtet. Jedoch sind alle Entscheidungen letztlich von denjenigen Stellen zu treffen, die hierfür demokratisch legitimiert sind. Dabei bleibt es mitunter nicht aus, dass Entscheidungen des Allgemeinwohls auch einmal gegen den erklärten Willen einer Gruppe erfolgen.
Wie werden in Deutschland die Übersetzungen russischer Autoren bzw. die Arbeiten von ÜbersetzerInnen gefördert?
Die Bundesregierung misst der Übersetzung fremdsprachiger literarischer und wissenschaftlicher Werke einen hohen Stellenwert bei. Mit ihrer Hilfe soll der interkulturellen Dialog geführt und entwickelt werden. Denn eine Kulturnation kann sich nicht als Insel verstehen. Sie lebt vielmehr vom kulturellen Austausch. Deshalb ist im Bereich der Literaturförderung die Kunst des Übersetzens besonders wichtig. Allerdings fördert die Bundesregierung die Übersetzungen nicht unmittelbar. Vielmehr bedient sie sich der Mithilfe und Entscheidungskompetenz unabhängiger Gremien und freier Experten.
Im Bereich der Belletristik vergeben insbesondere der Deutsche Literaturfonds e. V. und der Deutsche Übersetzerfonds e. V. Stipendien zur Übersetzung fremdsprachiger Werke, auch aus der russischen Sprache. Diese Stipendien werden in einigen Fällen zusätzlich zu dem Übersetzerhonorar des jeweiligen Verlages gewährt, damit eine literarisch qualifizierte Übersetzung entsteht. Denn nur mit qualifizierten Übersetzungen wird dem Ursprungswerk der notwendige Respekt gezollt. Die finanzielle Hilfe des Bundes ist dabei ungemein wichtig, um ausländische Werke der Gegenwartsliteratur für die deutsche Leserschaft zu erschließen.
Waren Sie schon einmal in Russland? Wenn ja, wann und wo?
Schon in meiner früheren Tätigkeit als Kultursenatorin der Freien und Hansestadt Hamburg hatte ich mehrfach Gelegenheit, St. Petersburg, das mit Hamburg seit 1959 in einer Städtepartnerschaft verbunden ist, zu besuchen. In diesem Jahr bin ich bereits zweimal zu Gesprächen mit meinem russischen Amtskollegen Kulturminister Michail Schwydkoi im Januar nach Moskau und im Juli nach St. Petersburg gereist.
Werden Sie Russland im kommenden Jahr zu den deutsch-russischen Kulturbegegnungen besuchen? Wenn ja: An welchen Veranstaltungen werden Sie teilnehmen?
Wir bereiten gegenwärtig das deutsche Kulturjahr 2004 in Russland vor. Es ist eingebettet in die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003 - 04, die von den Schirmherren Bundespräsident Johannes Rau und Präsident Wladimir Putin im Februar in Berlin eröffnet wurden. Seither finden in Deutschland zahlreiche kulturelle Veranstaltungen mit russischen Künstlerinnen und Künstlern statt. Zu den Höhepunkten gehört auch zweifellos die Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland Russland.
Im kommenden Jahr wird sich die deutsche Kultur in Russland vorstellen. Unser Kulturjahr in Russland beginnt mit der Ausstellung Berlin-Moskau/Moskau Berlin 1950-2000, die am 27. September 2003 in Berlin eröffnet wird. Ab März 2004 wird sie in Moskau zu sehen sein. Zur Eröffnung der Ausstellung in der Tretjakow-Galerie werde ich in die russische Hauptstadt reisen. Bis zur offiziellen Abschlussveranstaltung der beiden Kulturjahre Ende 2004 in Moskau, beabsichtige ich noch weitere Veranstaltungen in Russland zu besuchen.
Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch. (isla/.RUFO) |