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So sahen ihn die Russen in der Zeit der Schocktherapie: Wirtschaftsreformer Jegor Gaidar (Foto: Archiv) |
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Freitag, 18.12.2009
Gaidar-Nachruf: Erinnerungen an die SchocktherapieMoskau. Die Meinungen über den verstorbenen Ex-Regierungschef Jegor Gaidar sind bis heute geteilt. Ein kleiner Teil der Russen verehrt ihn als Reform-Helden, der Großteil verachtet ihn als Schuldigen von massenhafter Verarmung.
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An diesem Kopf scheiden sich in Russland bis heute die Geister. Für Russen, die sich als Liberale bezeichnen, ist Jegor Gaidar ein mutiger Wirtschaftsreformer, der mit unpopulären aber notwendigen Maßnahmen, wie der Preisliberalisierung und der Privatisierung den Weg in die Marktwirtschaft freimachte.
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Bei den einfachen Russen steht der Name Gaidar jedoch bis heute für Verarmung, für Hyperinflation, entwertete Sparguthaben und Renten und die Auflösung der Supermacht Sowjetunion.
So war es kein Zufall, dass das 1.Fernsehprogramm ORT im Nachruf auf Gaidar Bilder vom Dezember 1991 zeigte, als er an der Seite von Russlands Präsidenten Boris Jelzin in dem weißrussischen Sanatorium Beloweschskaja Puscha an den Verhandlungen zur Auflösung der Sowjetunion teilnahm.
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Viele Russen habe diese Staats-Auflösung, die von Gorbatschow faktisch begonnen und von Jelzin und Gaidar zu Ende geführt wurde, bis heute nicht verwunden.
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Jegor Gaidar, der sich in den letzten Jahren aus der Politik zurückgezogen und auf die Arbeit in einem von ihm gegründeten kleinen Wirtschaft-Institut konzentriert hatte, plagten schon länger gesundheitliche Probleme.
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Nach Meinung der Ärzte starb er an einer Trombose, die sich gelöst hatte. Die Todesursache werde jedoch routinemäßig untersucht, hieß aus russischen Sicherheitskreisen. Im Herbst 2006 erlitt Gaidar in Irland nach einer rätselhaften Vergiftung bereits eine Herzattacke. Seine Tochter teilte in ihrem Blog mit, ihr Vater sei an einem Herzinfarkt gestorben.
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Ein Mann aus der Nomenklatura
Jegor Gaidar wurde 1956 in Moskau geboren. Sein Vater, Timur Gaidar, war Konteradmiral und Militär-Korrespondent der Prawda in Kuba und Afghanistan, sein Großvater der berühmte Kinderbuchautor Arkadi Gaidar, dessen landesweit bekanntes Kinder-Buch Timur und sein Trupp der Jugend ein Leitbild geben sollte. Die Tochter des Verstorbenen, die 1982 geborene Maria Gaidar, machte in den letzten Jahren mit Straßenaktionen für die liberale Opposition von sich reden.
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Der studierte Ökonom Jegor Gaidar beschäftigte sich bereits zu Beginn der 1980er Jahre theoretisch mit Wirtschaftsreformen, und zwar sowohl in staatlichen Kommissionen als auch in den damals existierenden halblegalen Kreisen von Jungakademikern, den so genannten Perestroika-Clubs.
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Diesen Clubs in Moskau und St. Petersburg gehörten junge Wirtschaftsreformer an, die bis heute Rang und Namen haben und die Geschicke Russland streckenweise wesentlich mitbestimmten: Anatoli Tschubais (heute Chef des Staatskonzerns RosNano), Sergej Ignatjew (Chef der russischen Zentralbank) und Alexej Kudrin (Finanzminister)
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre machte Gaidar einen Karrieresprung. Er wurde Redakteur der Parteizeitungen Prawda und Kommunist. Im November 1991 machte Jelzin den damals erst 35jährigen Gaidar zum Finanzminister der ersten nachsowjetischen Regierung Russlands.
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Chefideologe und Symbol des postsowjetischen Kapitalismus
Gaidar wurde zu einer Art Chef-Ideologe der Marktwirtschaft. Jelzin ließ dem jungen Wirtschaftsreformer weitgehend freie Hand. Beraten wurde Gaidar von Harvard-Professor Jeffrey Sachs. Gaidar wurde dann sogar Vizepremier (weil Jelzin Anfangs in Personalunion Präsident und Premier war), musste den Posten aber 1993 wieder abgeben, weil er mit seiner Schocktherapie in der Bevölkerung auf massive Ablehnung stieß.
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Die von Gaidar im Januar 1992 angeordnete Preisliberalisierung führte zwar dazu, dass sich die leeren Regale in den Lebensmittelgeschäften wieder mit Waren füllten, gleichzeitig wurde der der Rubel aber fast wertlos. Die Inflation stieg auf 2.600 Prozent. Sparguthaben und zu Sowjetzeiten mühsam angesparte Renten verloren über Nacht ihren Wert.
Jungs in rosa Höschen an der Macht
Die Bevölkerung, die von einem weichen Kapitalismus oder auch Sozialismuis nach schwedischem Modell träumte, begann Gaidar zu hassen, vertraute aber weiter auf den neuen Zaren Boris Jelzin. Jungs in rosa Höschen schimpfte die KP-Presse in Anspielung auf die mangelnden Erfahrungen der jungen Wirtschaftsreformer, die an den Hebeln der Macht Russland in die Krise steuerten.
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Im Zuge der chaotischen laufenden Wirtschaftsreformen nahm der Druck auf Gaidar zu. Die Industrieproduktion ging zwischen 1989 und 1997 um 42 Prozent zurück. Viele Russen wurden arbeitslos und mussten sich als Straßen-Händler durchschlagen.
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Der geschasste Reformpraktiker wird wieder Theoretiker
Gaidar verlor 1993 sein Regierungsamt. Von nun an widmete er sich seiner Arbeit als Duma-Abgeordneter und dem Aufbau der liberalen Partei Demokratische Wahl Russlands, die bei den ersten Duma-Wahlen im Dezember 1993 aber nur 15 Prozent der Stimmen bekam, obwohl sie de facto Regierungspartei war. Aber auch dieses 15%-Ergebnis wurde von keiner der liberalen Parteien in Russland je wieder erreicht.
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Die Enttäuschung der Bevölkerung über Gaidars Schocktherapie war groß und hält bis heute an. Seit 2003 hat keine der kleinen, liberalen Parteien mehr den Sprung in die Duma geschafft. Selbst bei einem liberaleren Wahlrecht und einer freien Presse hätten die liberalen Parteien in Russland nach Meinung von Beobachtern heute nur wenig Chancen, ins Parlament zurückzukehren.
Michail Gorbatschow (dessen Popularitätswerte in Russland nur knapp über denen von Gaidar liegen) zeigte sich vom Tod Gaidars tief betroffen, bekräftigte aber seine Kritik an dessen Politik. Gaidar habe alle Probleme des Landes auf einmal lösen wollen. Das sei ein Fehler gewesen.
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Wladimir Putin sprach in seinem Beileidstelegramm von einem großen Verlust für Russland. Gaidar sei ein echter Bürger und Patriot gewesen.
Gaidars Weggefährte, der liberale Oppositionspolitiker und ex-Vizepremier Boris Nemzow, wiederholte die Rechtfertigungen der 1990er Jahre. Mit den Wirtschaftsreformen habe Gaidar Hunger und einem Bürgerkrieg verhindert. Die Politik der Schocktherapie sei hart, aber alternativlos gewesen, sagt Nemzow - was in den 1990er Jahren auch die Regierungsberater aus dem Internationalen Währungsfonds vertreten hatten.
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Doch in Wirklichkeit gab es in Russland bereits in den 1990er Jahren Politiker, die vor einer Schocktherapie warnten. Schon damals prognostizierten sie Verarmung, soziale Spaltung und eine ungerechte Eigentumsverteilung.
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Zu den Gaidar-Kritikern gehörte der Chef der sozialliberalen Jabloko-Partei Grigori Jawlinski und der ex-Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, die immer wieder für einen dritten Weg zwischen Kommunismus und dem marktradikalen Programm warben.
Ulrich Heyden, Moskau
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