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Der Woronescher Historiker Sergej Filonenko erzählt über seine Forschungen. (Foto: Weien/.rufo)
Der Woronescher Historiker Sergej Filonenko erzählt über seine Forschungen. (Foto: Weien/.rufo)
Donnerstag, 19.05.2011

Geheimdokumente für Kriegsforschung freigegeben

Woronesch. 70 Jahre nach dem Krieg finden Wissenschaftler in den Militärarchiven einzigartige Originaldokumente über die Sommeroffensive 1942. Russland-Aktuell spricht mit dem Historiker und Buchautor Sergej Filonenko.

In der Sommeroffensive 1942 war nicht Moskau das Hauptangriffsziel Hitlers, sondern der Kaukasus. Die Kampfhandlungen verlagerten sich in das Dongebiet zwischen Woronesch und Stalingrad. Ende 2011 werden die bislang geheimen Berichte der an den Schlachten beteiligten Generäle und Befehlshaber veröffentlicht.

Die Dokumente, darunter der Kriegsbericht Freiherr von Weichs über die Sommeroffensive 1942 und viele bislang geheime Beute-Dokumente der russischen Armee- und Geheimdienstarchive, sind auch für die deutsche Geschichtswissenschaft neu und von großem Interesse.

Herausgeber der Berichte ist Sergej Filonenko, Historiker und Prorektor für internationale Beziehungen der Woronescher Staatlichen Agraruniversität. Der Autor des Buches „Die Kriegshandlungen in und um Woronesch aus der Perspektive der Russen und der Besatzer 1942-1943“ hat mit uns über die Öffnung der Archive für die wissenschaftliche Forschung und sein neues Buch gesprochen.

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Medwedjews Geschichtspolitik öffnet Archive


R-A: Im Mai 2009 hat Präsident Medwedew eine Kommission gegen Geschichtsfälschung eingerichtet. Ist die Einsetzung der Kommission gleichbedeutend mit der Wiedereinführung einer Zensur, die vorschreibt, worüber man schreiben darf und soll?

Sergej Filonenko: Nein, das ist ein völlig neuer Ansatz, der von vielen nicht verstanden wird. Meiner Meinung nach geht es darum, eine auf Dokumenten basierende objektive Wertung der historischen Ereignisse zu ermöglichen.

Dazu bedarf es der Aufarbeitung bislang geheimgehaltener Dokumente und der Kommentierung. Schließlich kann sich der Leser dann mit den Dokumenten selbst vertraut und ein Bild von den Ereignissen machen.

Das ist unser Herangehen, und denselben Ansatz verfolgen auch die Autoren der mehrbändigen Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, die derzeit in Russland verfasst wird und die 2015 erscheint. Sie enthält Analysen und dazu jeweils zahlreiche Dokumentenbände. Eine Diskussion über gefälschte Darstellungen erübrigt sich so von selbst.

Es ist eine neue Etappe in der russischen Geschichtsforschung. Die deutsche Geschichtsforschung hat ebenfalls fast dreißig Jahre, von 1979 bis 2008 Jahre, gebraucht um das grundlegende Werk "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" zu schreiben (München, Akademie für Militärgeschichte).

Dossier Sergej Filonenko
Sergej Iwanowitsch Filonenko ist Professor und Prorektor der Staatlichen Agraruniversität Woronesch. Er hat im In- und Ausland sieben Monographien über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht. Unter seiner Federführung fanden in den letzten Jahren zahlreiche internationale Konferenzen in Russland und Italien statt, wurden bislang geheime Dokumente für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 2008 bereitete er gemeinsam mit der Archivverwaltung des FSB im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts die Freigabe weiterer geheimer Dokumente der Zeit des Zweiten Weltkriegs vor.
Die deutschen Historiker haben zehn Bände verfasst, um letztlich zu dem Schluss zu gelangen, dass die Wehrmacht ebenfalls an Verbrechen des Nazi-Regimes beteiligt war.

Erstmals Forschungen über die deutschen Kriegsverbündeten


R-A:Wie ist es Ihnen gelungen, hier in Woronesch, weitab von Moskau, ein international renommiertes und in Russland führendes Wissenschaftszentrum zu etablieren?

Sergej Filonenko: In Woronesch kreuzten und überschnitten sich alle Akteure, Probleme und Facetten des Krieges im Osten: das Besatzungsregime, das Verhältnis der Besatzer zur Bevölkerung, die Partisanen, die Propaganda, die Konflikte der Besatzer, der Deutschen, Ungarn und Italiener.

Am Geschichtslehrstuhl der Woronescher Staatlichen Agraruniversität befasst sich eine Gruppe von Wissenschaftlern unter meiner Leitung mit der Aufarbeitung der Dokumente und der Geschichte der deutschen Verbündeten.

15 Wissenschaftler, darunter zwölf Nachwuchswissenschaftler aus Russland, Italien und Deutschland, arbeiten an Fallstudien über die Beteiligung der Armeen unterschiedlicher Länder wie Italien, Ungarn, Rumänien, Kroatien oder der Slowakei an den Kampfhandlungen.

In Russland gab es bis vor kurzem kein einziges Buch, das sich mit der ungarischen Armee oder mit den rumänischen Truppen befasst hätte. Jetzt haben wir erstmals "Slowaken an der Ostfront" herausgegeben.

Derzeit bereiten wir das Buch "Die 2. ungarische Armee an der deutsch-russischen Front" vor. Alle wissenschaftlichen Arbeiten des Zentrums stützen sich auf Dokumente, die in den letzten Jahren entdeckt und für die Öffentlichkeit freigegeben wurden.

Das Militärarchiv in Rom arbeitet eng mit Woronesch zusammen. (Foto: TV)
Das Militärarchiv in Rom arbeitet eng mit Woronesch zusammen. (Foto: TV)

20.000 italienische Soldaten verschwanden spurlos an der Ostfront


R-A: Die Kämpfe am Don waren eine katastrophale Niederlage für die deutschen Verbündeten. Ganze Armeen und Abteilungen wurden aufgerieben.

Sergej Filonenko: Die Ungarn, Italiener und Rumänen fragen sich, wo die Soldaten geblieben sind. Das Schicksal und der Verbleib zehntausender Armeeangehöriger ist weiter unbekannt. Wo sind sie begraben? Was ist mit den Kriegsgefangenen passiert?

Der Zerschlagung der 2. ungarischen Armee bei Woronesch ist in der dreibändigen "Geschichte Ungarns" ein Kapitel mit der Überschrift "Das Unglück von Woronesch" gewidmet. Der Untergang der Armee wird als die schwerste Niederlage des Landes in einem Krieg beschrieben.

Von den 200.000 Angehörigen der ungarischen Armee verschwanden 140.000 Soldaten buchstäblich. Sie starben beim sowjetischen Angriff, wurden verletzt, gerieten in Kriegsgefangenschaft oder sind verschollen.

Die Schlacht bei Woronesch ist für die Ungarn eine nationale Tragödie. Auch von den insgesamt rund 228.000 italienischen Soldaten sind laut italienischen Angaben 20.000 in Russland verschollen.

In den Gefangenenlagern wurden nur die Soldaten erfasst, die es in die 100 bis 300 Kilometer entfernten Lager geschafft hatten. Auf dem Weg dorthin gerieten sie in Schneestürme, froren den Soldaten Hände und Füße ab. Nachts starben sie zu Hunderten.

Konferenz in Rom ermöglicht Zugang zu Militärarchiven


Im November 2010 fand auf Einladung des italienischen Generalstabs in Rom bereits die vierte internationale Konferenz zu dem Thema statt. Im Ergebnis erhalten Wissenschaftler und Journalisten erstmals Zugang zu den Archiven des Generalstabs des italienischen Verteidigungsministeriums.

Bei Russland-Aktuell
• Geheimdokumente für Kriegsforschung freigegeben. Teil II
Im Gegenzug sollen die Italiener Einsicht in die 1942-1943 von der Sowjetarmee erbeuteten Dokumente und Briefe der italienischen Kriegsgefangenen erhalten, die in den russischen Archiven aufbewahrt werden.

Auf diese Weise hofft man in Italien, die Massengräber der gefallenen Italiener zu finden und mehr über das Schicksal verschollener oder kriegsgefangener Soldaten zu erfahren. Die Italiener haben seit den 1990er Jahren mehr als 10.000 Soldaten exhumiert und in der Heimat beigesetzt.

Ende Mai empfangen wir an der Universität eine Delegation der Università La Sapienza di Roma, um die nächste internationale Konferenz, die im Juni 2012 in Moskau und Woronesch stattfinden wird, vorzubereiten.
Wissenschaftler und Militärangehörige aus 23 Länder haben ihre Teilnahme angekündigt. Es ist unsere Aufgabe, das Schicksal der vermissten Soldaten aufzuklären.

Die Fortsetzung des Gesprächs folgt in Kürze.

(Susann Weien/.rufo)

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