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Der Historiker Benjamin Schenk ist zu seinem Forschungsjahr in St. Petersburg mit Familie angereist (Foto:ld/SPZ)
Der Historiker Benjamin Schenk ist zu seinem Forschungsjahr in St. Petersburg mit Familie angereist (Foto:ld/SPZ)
Dienstag, 04.07.2006

Benjamin Schenk: Eisenbahngeschichte mal menschlich

St. Petersburg. Der 35-jährige Münchner Historiker hat eine Monographie über den Kult um den Fürsten Alexander Newski geschrieben. In seinem nächsten Buch soll es um die Geschichte der russischen Eisenbahn gehen.

Vor kurzem ist Benjamin Schenk mit seiner Frau Birgit und zwei Töchtern für ein Recherche-Jahr an die Newa gekommen. Anna Litvinenko von der St. Petersburgischen Zeitung sprach mit Benjamin und Birgit aber nicht nur über die Arbeit, sondern auch über deren persönliche Eindrücke von St. Petersburg.

SPZ: Benjamin, wie ist Dein Interesse an Russland und St. Petersburg entstanden?


Anfang der 90er Jahre habe ich ein halbes Jahr in St. Petersburg studiert. Ich wohnte bei einer alten Petersburger Familie, wo ich sehr gut aufgenommen wurde, und durch diese Brücke habe ich mir die Stadt erschlossen.

SPZ: Was fällt Dir am meisten auf, wenn Du die Stadt von damals und von heute vergleichst?


Was natürlich ins Auge springt, ist die ökonomische Situation. Es gab damals zum Beispiel keine Cafés, wo man einfach mal Kaffee oder ein Glas Wein am Abend trinken kann. Wenn überhaupt, dann ging man ins Restaurant, wo es dunkel und so laut war, dass man sich gar nicht unterhalten konnte. Überhaupt war es damals viel dunkler hier. Es gab viel weniger beleuchtete Fassaden an den großen Straßen.

SPZ: Vermisst Du etwas aus dieser Zeit, was im Petersburg von heute schon nicht mehr vorzufinden ist?


Benjamin: Ich habe im privaten Umfang damals mitbekommen, was es heute vielleicht schon nicht mehr gibt: eine bestimmte Form des sozialen Lebens in den Familien und Freundeskreisen, wo viele Feste gefeiert und lange Küchengespräche geführt wurden. Die Leute waren viel ruhiger, haben sich öfters getroffen. Heute sind die Leute permanent unterwegs; jeder hat zwei bis drei Jobs, um durchzukommen.

Birgit: Damals fühlte ich mich hier immer wie ein bunter Hund, weil ich durch meine Klamotten gleich auffiel. Die Leute waren vielmehr in sich versunken, ja fast vermummt. Heute aber falle ich eher auf, weil ich so einfach angezogen bin, ohne Schminke und hohe Absätze.

SPZ: Was hat Dich diesmal nach Russland geführt, Benjamin?


Ich arbeite an der Münchner Universität als Assistent am Historischen Seminar und habe ein Stipendium der Humboldt-Stiftung für ein Jahr bekommen, um an einem Projekt zu forschern, was meine Habilitation werden soll.

Es geht um das Reisen mit der Eisenbahn im Russland des 19. Jahrhunderts und die dadurch bedingte Wandlung der Wahrnehmung des Landes. Ich möchte versuchen, eine Sozial- und Kulturgeschichte der Eisenbahn in Russland zu schreiben. Aber ich bin erst am Anfang der Arbeit und habe im Moment noch mehr Fragen als Antworten.

SPZ: Bestimmt haben sich russische Historiker schon mit der Geschichte der Eisenbahn befasst. Wodurch wird sich Deine Herangehensweise an dieses Thema unterscheiden?


Interessanterweise gibt es viele technische und wirtschaftliche Eisenbahn-Geschichten, aber da tauchen keine Menschen auf – das sind Eisenbahngeschichten ohne Passagiere.

Ich will versuchen herauszufinden, inwieweit dieses neue Verkehrsmittel die Gesellschaft verändert hat. Ob die Leute dank der Eisenbahn angefangen haben, dieses riesige Land, das sie früher nur aus Erzählungen und aus der Literatur kannten, im wahrsten Sinne des Wortes zu „er-fahren“. Es gibt kaum ein anderes Land, wo die Eisenbahn den Leuten erst die Möglichkeit gegeben hat, das Land für sich erst zu erschließen.

SPZ: Du hast Dich viel mit der russischen Geschichte beschäftigt. Hast Du dabei vielleicht Russland enträtselt und bist zu Erkenntnissen über den russischen Charakter gekommen?


Ich bin immer sehr zurückhaltend was Begriffe wie „russischer Charakter“ und „russische Seele“ betrifft. Damit kann ich nicht viel anfangen. Bei der Arbeit am Buch über den Alexander-Newski-Mythos fand ich es interessant, dass sich in der russischen Geschichte bestimmte Prozesse beobachten lassen, die gar nicht spezifisch russisch sind.

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In dem von mir untersuchten Fall wurde einfach eine bestimmte Figur aus der Geschichte über die Jahrhunderte immer wieder neu erdacht – je nachdem, welche Fragen die Gegenwart an die eigene Vergangenheit hatte. Und mit diesen neuen Fragen wurde die Geschichte immer wieder neu geschrieben.

Dies sind aber Prozesse, die man nicht nur in Russland, sondern überall finden kann. In Russland wird das Russisch-Sein oft als etwas ganz besonders herausgestellt. Ich denke, man sollte Russland durchaus im europäischen Kontext sehen, in den es in den meisten Epochen seiner Geschichte eingebunden war.

SPZ: Benjamin, Birgit, aber vielleicht bleiben doch Sachen, die ihr in Russland noch gerne verstehen würdet?


Birgit: Die Frage, die für mich gerade sehr aktuell ist, da wir zwei kleine Kinder haben: Was tun hier Familien, wenn der Kindergarten im Sommer drei Monate zu hat? Vielleicht hat man eine Babuschka, die die Kinder betreut, aber wenn nicht, was dann? Die Eltern können ja nicht drei Monate frei bekommen.

Benjamin: Was ich gerne verstehen würde, ist die Institution des ‚Sanitarny Den’ (Sanitätstag). Es gibt den einmal oder sogar mehrmals im Monat in Bibliotheken, in Geschäften und auf dem Markt. Man könnte es sich so vorstellen: Ein Tag im Monat machen alle mal zu und es wird richtig sauber gemacht und aufgeräumt. Aber zum Beispiel in Bibliotheken und Archiven wird dann gearbeitet wie immer, nur hinter verschlossenen Türen, ohne Besucher. Aber wenn Du richtig nett bittest: ‚Ich bin extra gekommen, kann ich vielleicht doch ...?’ – dann kommt man doch rein. Ich weiß nicht, ob das spezifisch russisch ist, aber verstehen würde ich es gerne.

SPZ: Benjamin, Birgit, vielen Dank für das Gespräch!


(Anna Litvinenko/SPZ)



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