Montag, 16.05.2005
Petersburg sucht Neuland auf Ostsee-BodenSt. Petersburg. Der Stadt wird es zu eng im Newa-Delta: Deshalb soll die Wassili-Insel einen Kilometer ins Meer wachsen. Auf dem neuen Land wird ein moderner Stadtbezirk mit einem großen Passagierhafen entstehen.
|
Kräuselnd lecken leichte Wellen des Finnischen Meerbusens ans Ufer der Wassili-Insel. Hier und da ausgeblichenes Papier, leere Bierdosen und Plastikmüll. Dicht am Wasser liegen Granitblocks mit Rostflecken, bemalt mit Graffitis. Die Westküste der Wassili-Insel, zugleich Petersburgs Fassade zur Ostsee, hat nichts von einem gepflegten Strand. Es ist eher eine Mondlandschaft aus Lehm und Sand.
Doch in fünf bis acht Jahren könnte die Küste hinter dem Hotelblock „Pribaltiskaja“ ein anderes Gesicht bekommen. Hier ist ein gigantisches Landgewinnungsprojekt geplant, dass die Insel nicht nur schöner, sondern vor allem größer machen wird. „Der Westen der Wassili-Insel soll in ein modernes Küstenzentrum verwandelt werden. Auf 450 Hektar neu gewonnenen Landes soll ein multifunktionaler Stadtbezirk entstehen“, erläutert Dmitrij Jalow die hochfliegenden Pläne. Er ist Projektmanager des Staatlichen Forschungsinstituts für Urbanistik („RossNIPIUrbanisiki“), wo das Konzept für die Erweiterung und Bebauung eines der beliebtesten Petersburger Stadtteile entwickelt wurde.
Ein neuer Stadtteil mit allem was dazugehört
Ein neuer Hafen, Wohnanlagen, Geschäftsgebäude, Kliniken, Sportplätze, Grünanlagen und auch eine neue Metrostation sollen auf dem neuen Terrain entstehen. „Dafür wollen wir knapp 30 Millionen Kubikmeter Grund vor der Küste der Insel aufschütten“, so Jalow. Wenn das Mammutprojekt in der nächsten Zeit von der Stadtverwaltung gebilligt wird, soll mit dem Bau noch in diesem Jahr Schritt für Schritt begonnen werden. Nach Informationen des städtischen Komitees für Investitionen könnte der neue Hafen bereits 2007 oder 2008 fertig gestellt sein. Für die Verkehrsanbindung soll eine Schnellstraße sorgen, die in Tunnels und über Brücken in Nord-Süd-Richtung das Newa-Delta quert.
„Das sagenumwobene Projekt hat eigentlich nicht viel Neues an sich“, erklärt Dmitrij Jalow. Petersburg habe eine lange Tradition der Stadtentwicklung durch Landgewinnung. Auch ein großer Teil der heutigen Wassili-Insel liege auf in den 60er und 70er Jahren aufgeschüttetem Land. „Seit der damaligen Zeit hat sich die Landgewinnungstechnik deutlich weiter entwickelt“, fügt Jalow hinzu. Während es zur Sowjetzeit sieben bis acht Jahre dauerte, bis die aufgeschüttete Fläche auf natürliche Art entwässert werden konnte, nutzt man heute modernere Methoden, bei denen das Wasser abgepumpt wird. So dauern die Grund-Konsolidierungsmaßnahmen meist nur sechs bis acht Monate.
Der heutige Fährhafen ist zu klein
Ausgangspunkt des großen Bauvorhabens auf der Wassilij-Insel war die Notwendigkeit eines neuen Fährterminals für die Newastadt. „Petersburg verfügt über keinen geeigneten Hafen, um größere Schiffe aufzunehmen“, so Jalow. Fährschiffe mit über 200 Metern Länge und mehr als sechs Metern Tiefgang können das heutige Passagierterminal an der Wassili-Insel nicht ansteuern. Ähnlich verhält es sich mit großen Kreuzfahrtschiffen, die im öden Frachthafen festmachen müssen. Darunter leide nicht nur der Seetourismus, sondern auch das Image der Stadt, so Jalow.
Das Planungsbüro „LenmorNIIprojekt“ bestimmte nach Untersuchungen die Westküste der Wassili-Insel als idealen Platz für ein solches Vorhaben. Doch dann wurde das ursprünglich nur als Fährterminal geplante Projekt erweitert. Nun soll das neue Hafenareal zum Kern eines der größten Bauprojekte der letzten Jahrzehnte werden, erklärt Jalow. Auftraggeber und Hauptinvestor ist inzwischen die Organisation „Morskoj Fassad“ („Meerfassade“). „Die gewonnene Fläche wäre eine harmonische Erweiterung der heutigen Wassili-Insel“, ist sich der Projektmanager sicher.
Cannes lässt grüßen: Luxushäuser und Meeres-Boulevard
Der über einen Kilometer breite Streifen Neuland läge nicht nur am Meer, sondern auch nahe zur Stadtmitte, wäre also begehrter Baugrund. Der neue Stadtbezirk soll aus zwei Teilen bestehen. Im südlichen Teil ist ein Geschäftsviertel mit Hochhäusern geplant. Hier soll es moderne Business-Center, Hotels, Einkaufs- und Freizeit-Zentren geben. Neben gewöhnlichen Wohnblocks denkt man auch an Luxuswohnhäuser mit bewachten Parkplätzen und gepflegten Höfen. Boulevards, Parks und ein neuer Uferkai sind außerdem angedacht. Im Norden wird es einen Yachtklub und einen öffentlichen Strand geben. In dem neuen Areal werden rund 27.000 Menschen wohnen und 38.000 arbeiten.
Derartige Landgewinnung wird erfolgreich in anderen europäischen Ländern wie England oder Holland, aber auch in Asien und den USA praktiziert. Ausländische Technik soll auch in Petersburg angewendet werden. Die Koordinatoren verhandeln momentan mit großen Banken, Investoren und Fachleuten über deren Beteiligung. Das größtenteils privat finanzierte Projekt soll teilweise auch aus dem Staatshaushalt unterstützt werden.
Angst um den Ausblick aufs Meer
Für die heutigen Insulaner wird das Mammut-Projekt einschneidende Veränderungen bedeuten. Sergej Werenko wohnt in einem der Blocks am Ufer: „Der Finnische Meerbusen ist ein schöner Erholungsort, nicht nur für Hundebesitzer“, sagt er. Die Zukunft sieht er skeptisch: „Wenn dieses Projekt verwirklicht ist, wird es hier nur starken Verkehr, Häuser für Reiche hinter hohen Zäunen, viele Nachtklubs und bestimmt eine Menge Drogensüchtige geben“, argwöhnt der Rentner, der seit 25 Jahren auf der Wassili-Insel lebt. Auch seine Nachbarin macht sich Sorgen: „Wir haben hier frische Luft und einen schönen Blick aufs Meer. Im Sommer baden und sonnen wir uns am Strand. Man braucht gar nicht wegzufahren. Wenn dann hier alles zugeschüttet wird, bringt das lauter Schutt, Schmutz und Schlamm“, so Nina Kusnezowa. Aber protestieren will keiner. „Das hat keinen Sinn. Die Gouverneurin hat alles ohne uns beschlossen“, sagt sie.
Ganz so weit ist es noch nicht. Das Projekt wird im Augenblick noch von den beteiligten Gremien diskutiert, soll aber schon bald von der Stadtverwaltung offiziell bewilligt werden. An seiner erfolgreichen Realisierung wollen weder die Ideengeber noch die Investoren zweifeln. In zehn Jahren wäre die Wassili-Insel dann nicht wiederzuerkennen. Vorerst steht unweit der Küste nur eine einsame Bohranlage im Wasser: Man untersucht schon den Meeresboden.
(Der Artikel entstand in der Studentenredaktion der SPZ unter Mitarbeit von Olga Kapustina, Nikolai Misin, Ljubow Rumjanzewa, Olga Wilzina, Nastia Amiridze und Natascha Torbowa. rufo/SPZ)
|
|
|
|
Schnell gefunden
|