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Foto: ntvru.com
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Sonntag, 28.07.2002

Die gemeingefährliche Armee

Von Lothar Deeg, St. Petersburg. Die Ukraine möchte Nato-Mitglied werden, aber ihre Armee hinterlässt einen katastrophalen Eindruck: Das Inferno auf dem Flugtag in Lemberg ist bereits das dritte schwere Unglück in drei Jahren, bei dem Zivilisten ums Leben kamen. Mit den Todesopfern vom Samstag haben die ukrainischen Landesverteidiger bereits 163 unbeteiligte Menschen auf dem Gewissen. Die technisch hochgerüstete Armee ohne soliden Unterhalt erweist sich für ihr Land eher als Gefahr denn als Schutz.

Die Zahl der Todesopfer der Katastrophe auf der Flugschau in Lemberg stieg am Sonntag auf 83, nur wenige sind bisher identifiziert. Unter den Toten sind 19 Kinder. 116 Menschen wurden verletzt, davon 23 schwer. Der ukrainische Staat hat zugesagt, die Beerdigungskosten für die Opfer der Katastrophe zu übernehmen. Aus einem Reservefond des Staatshaushaltes wurden 110 Millionen Griwna (1,9 Mio. Euro) für die Opfer und ihre Familien bereitgestellt. Die beiden Piloten der abgestürzten Su-27 sind ebenfalls in ärztlichen Behandlung. Beide haben Wirbelsäulenverletzungen – Folgen ihrer in letzter Sekunde geglückten Rettung per Schleudersitz.

Erste persönliche Konsequenzen

Staatspräsident Leonid Kutschma entliess noch am Samstag den Kommandeur der Luftwaffe, Generaloberst Viktor Strelnikow. Auch der Chef des 14. Luftwaffenkorps wurde gefeuert. Seine Einheit hatte anlässlich ihres sechzigjährigen Jubiläums am Samstag den verhängnisvollen Flugtag veranstaltet. Dazu waren tausende Besucher auf den Militärflugplatz nahe des galizischen Lemberg (ukrainisch: Lwiw, russisch: Lwow) gekommen. Kutschma war umgehend von seinem Urlaubsort auf der Krim nach Lemberg geflogen. Nach einem Krankenhaus-Besuch erklärte er, dass es in Zukunft in seinem Land „Shows mit Militärtechnik“ nicht mehr geben werde. Nachdem Kutschma für Montag landesweite Trauer angeordnet hatte, kehrte er an sein Urlaubsdomizil zurück.

Am Sonntag reichte auch Wladimir Schkidtschenko, der Verteidigungsminister der Ukraine, seinen Rücktritt ein. Das Gesuch ist von Präsident Leonid Kutschma aber noch nicht angenommen worden.

Das dritte Mal in drei Jahren

Schon in den letzten beiden Jahren hatte es bei der ukrainischen Armee zwei schwere Manöverunglücke gegeben, bei denen zahlreiche Zivilisten zu Tode kamen. Im April 2000 schlug eine Boden-Boden-Rakete in einem neunstöckigen Wohnhaus in einem Kiewer Vorort ein. Drei Menschen kamen dabei ums Leben, sechs wurden verletzt. Eigentlich hatte das Geschoss auf einem 90 Kilometer entfernten Truppenübungsplatz niedergehen sollen.

Im Oktober 2001 war es dann eine Flugabwehrrakete, die mit verheerenden Folgen über ihr Ziel hinausschoß: Über dem Schwarzen Meer traf sie eine russische Tupolew-154, unterwegs von Tel Aviv nach Nowosibirsk. Niemand der 77 Menschen an Bord überlebte. Im ersten wie im zweiten Fall hatte die ukrainische Militärführung ihre Verantwortung tagelang abgestritten und argumentiert, dass die Übungsraketen unmöglich die zivilen Objekte treffen konnten. Doch jedesmal fanden sich an den Unglücksstellen eindeutige Beweise für die Raketentreffer. Nach einer Woche verbissener Verbal-Abwehr musste der Verteidigungsminister nach dem Tupolew-Abschuss seinen Hut nehmen. Die Entschädigung der Hinterbliebenen durch die Ukraine wird vermutlich erst nach komplizierten Gerichtsprozessen erfolgen.

Haben die Piloten den Bogen überspannt?

Diesmal ist die Verantwortung der Armee sofort offensichtlich. Die beiden Piloten, Wladimir Toponar und Juri Jegorow, erklärten zwar ihrem Präsidenten, dass sie das Unglück nicht verhindern konnten. Als eine Version des Unglückshergangs steht der Ausfall beider Triebwerke des Kampfjets im Raum. Russische wie ukrainische Experten sehen die Schuld aber weniger bei der Technik als bei den Piloten und den Veranstaltern des Flugtags. „Ich kenne kein zuverlässigeres Flugzeug als die Su-27“, erklärte der russische Testpilot Anatali Kwotschur. Bei dem verhängnisvollen Flugmanöver hätten die Flieger die Maschine bis zu den Grenzen ihrer Manövrierfähigkeit gefordert, was bei einer Aviashow aber nicht angebracht sei. Wadim Gretschaninow, ein ehemaliger Militärberater Kutschmas, kritisierte in einer Fernsehdiskussion die ungenügenden Sicherheitsmaßnahmen. Einerseits hätten die Abstände nicht ausgereicht, damit die Piloten bei auftretenden Problemen die Maschine von den Zuschauern hätten fern halten können, andererseits sei die Su-27 zu tief geflogen. „Das war eventuell gar kein Fehler, sondern Draufgängertum“, so Gretschaninow. Nach russischen Normen hätte der Seitenabstand zu den Zuschauern mindestens 200 Meter und die Mindesthöhe 70 Meter betragen müssen. „Bei der kleinsten Abweichung hätte die Flugleitung die Vorführung abbrechen müssen“, so Generaloberst Nikolaj Antoschkin, der in seiner Laufbahn drei Kunstflugstaffeln der russischen Luftwaffe aufbaute. Auch wiesen russische Experten darauf hin, dass die Unglückspiloten, zwei altgediente Flieger-Asse im Range von Obersten, keine Erfahrung mit Flugvorführungen hätten. In Russland sind zu derartigen Demonstrationsflügen nur die Piloten zweier Spezialeinheiten berechtigt.

Unglücke – Symptome armer Armeen

In Russland wie in der Ukraine können in den letzten Jahren viele Kampfpiloten wegen Geldmangels nicht mehr ausreichend trainieren – und der Sold reicht kaum zum Überleben. Gleichzeitig werden die Waffensysteme vernachlässigt. Damit werden Menschen und Material zu gefährlichen Fehlerquellen. Die fatale ukrainische Unglücksserie – die auf russischer Seite mit der Kursk-Katastrophe und zahlreichen Hubschrauberabstürzen ihre Entsprechung findet – zeigt, das für solche Unglücke nicht nur einzelne Uniformierte verantwortlich sind, sondern auch das Festhalten an übergroßen, aber finanziell nicht mehr tragbaren Streitkräften. (ld/rUFO)

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