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Donnerstag, 27.02.2003

Besonderheiten des neu-russischen Liebeslebens

Von Stephan Hille, Moskau. Die Lippen sind leuchtend rot geschminkt, das Decollete lässt tief blicken, die Beine verschwinden in einer hauchdünnen Stoffhose. Die Stöckelschuhe machen die kleine Ljuba einen halben Kopf größer. Freitagabend, Klubabend, und Ljuba will es heute Abend wieder wissen: Die 24-jährige ist auf der Suche nach einem Mann.

Sie muss gefallen, denn die Konkurrenz schläft nicht. An den Wochenenden sind die Moskauer Klubs voll von einheimischen Schönheiten. Das "Boar House" ist bereits um elf Uhr abends brechend voll.

Unter den Besuchern finden sich nur wenige russische Männer. Einige sind bereits sturzbetrunken. Ein baumlanger Kerl schlägt mit seiner Partnerin wie eine gefällte Birke der Länge nach aufs Parkett."Entsetzlich" - Ljuba verdreht die Augen.

Ljuba geht ins "Boar House", weil hier mehr ausländische Männer verkehren als anderswo. Und Ljuba möchte einen Ausländer kennen lernen. "Nicht wegen dem Geld ", beteuert sie und nippt an ihrem Bier mit Strohhalm. "Ich will einfach keinen Russen mehr. Sie sind in allem schwächer: In der Seele, im Verstand und in der Gesundheit." Sie selbst, sagt Ljuba, sei eine starke und unabhängige Frau. "Mit einem schwachen Mann kann ich nicht zusammen sein."

"Die Frau soll zum Mann aufschauen und mit ihrer Schönheit die Stärke des Mannes unterstreichen." Dilja Jenikejewa sagt Sätze, die einem Eheberatungsbuch aus den fünfziger Jahren entstammen könnten. Doch die 51-jährige meint es ernst. "In Russland haben sich die Frauen ihre Weiblichkeit erhalten", sagt sie, "und das ist auch gut so". Jenikejewa zählt zu den führenden Sexualwissenschaftlerinnen in Russland. Ihre "Enzyklopädie der sexuellen Geheimnisse" ist nur einer ihrer Bestseller. 52 Bücher hat die Ärztin und Psychologin in den vergangenen fünf Jahren geschrieben. Darunter die ersten Ratgeber zu Liebe und Sex. Mittlerweile schreibt sie erotische Detektivromane im Monatsrythmus.

Liebe, Sex, Romantik und das individuelle Glück in der Partnerschaft waren zu Zeiten der Sowjetunion Tabuthemen. Die Kommunistische Partei hatte die Gleichheit der Geschlechter ausgerufen. Mit Irina als Kranführerin und Swetlana am Steuer des Trolleybusses war die Emanzipation der Frau nach Plan vollzogen. Doch was außer der Liebe zum Sozialismus die Herzen bewegte, blieb hinter den Schlafzimmertüren verborgen. "Bei uns gibt es keinen Sex", teilte eine brave Sowjetbürgerin noch Anfang der neunziger Jahre im Staatsfernsehen via Satellit dem amerikanischen Fernsehpublikum mit. Sie meinte öffentlichen Sex. Denn in den realsozialistischen Betten ging es mindestens so ungezügelt zu wie im Westen.

Die 65-jährige Natascha fährt ihre neun Monate alte Urenkelin im Kinderwagen zwischen den Plattenbauten im Moskauer Norden spazieren. Natascha erinnert sich noch gut daran, wie sie sich als Kind in der Ein-Zimmer-Wohnung oft nachts unter dem Bett verkriechen musste. Die Mutter schuftete in der Textilfabrik, derweil der Vater Damenbesuch empfing: "Meine Mutter war ein fürchterlicher Drachen. Daher hatte mein Vater für jede Nachtschicht eine andere Geliebte."

Mit 14 wurde Natascha Tänzerin im berühmten "Berejoska"-Ensemble. Der 40-jährige Direktor wurde ihr erster Liebhaber. Das war anfang der fünfziger Jahre. "Danach habe ich mich an jeden rangeworfen", sagt sie. Geheiratet hat Natascha nur einmal, "um Kinder zu machen". Kurz nach der Geburt des zweiten Kindes ließ sie sich scheiden. "Ich hielt es mit dem Schwachkopf nicht aus." Den Richter musste sie bestechen, zu Sowjetzeiten war es schwierig, sich scheiden zu lassen. Natascha hat zwanzig Mal abgetrieben. Sie ging dafür zu den Ärzten nach Hause, denn "man wollte ja keine dummen Fragen von der Partei." Jetzt ist die Urgroßmutter mit sich und ihrem Leben im Reinen: "Ich habe mein Fässchen ausgetrunken."

Die Sowjetunion hatte die höchsten Abtreibungsraten, nur gesprochen wurde darüber nicht. Der Untergang der kommunistischen Ordnung hinterließ ein Vakuum. Sex war nun kein verbotenes Thema mehr. Das Sexgeschäft boomte rasch. An erotischer Literatur, Softpornos und Intimshops herrscht in Russland längst kein Mangel mehr. Moskau liegt mit seiner Dichte an Nachtclubs, in denen die Grenzen zwischen Disco und Striplokal meist fließend sind, im europäischen Vergleich an der Spitze.

Männer hatte Ljuba viele, geliebt hat sie selten. Im Moskauer Studentenwohnheim, weit weg von ihrer sibirischen Heimat Jakutien landete sie schon als 17-jährige nach Parties mit reichlich Alkohol häufig in fremden Betten. Ans erste Mal erinnert sie sich nicht mehr. Die meisten Beziehungen hielten nicht länger als ein paar Tage "Es ging fast immer nur um Sex. Manchmal auch zu dritt. Ich war neugierig und unerfahren." Vier Abtreibungen hat die 24-jährige bereits hinter sich. "Heute bin ich vorsichtiger", sagt sie.

Vor drei Jahren hat sie ihr Jura-Examen gemacht. Jetzt arbeitet sie für 700 Dollar im Monat als Chefjuristin in einer Moskauer Baufirma. Ihre Karriere ist ihr sehr wichtig. "Zu Hause sitzen will ich nicht." Was ihr noch fehlt zum Glück ist ein Mann.

Ljubas engste Studienfreundin Nastja, sitzt an der Bar und schaut gelangweilt auf die Tanzfläche. "Da ist heute niemand für dich dabei, Ljubuschka". Seit zwei Jahren hat Nastja einen amerikanischen Freund. "Wenn du einmal einen Ausländer hattest, willst du keinen Russen mehr", sagt die 23-jährige. Sie findet, dass "die russischen Männer wie verwöhnte Kinder sind.Sie betrachten die Frau als Spielzeug, mit dem sie machen können, was ihnen gefällt."

Beim Thema Sex gelten in Russland mittlerweile keine Grenzen mehr. In den Stellenanzeigen werden häufig Sekretärinnen mit "Modelfigur" und "hübschem Lächeln" gesucht. Das Fehlen einer kirchlichen Moral und die Öffnung gen Westen haben alle Schranken gebrochen. Doch an den gesellschaftlichen Zwängen hat die neue Freizügigkeit wenig geändert.

Früher stiegen sowjetische Frauen mit dem örtlichen Parteisekretär ins Bett, um schneller eine Wohnung zu bekommen. Heute umgeben sich reiche Männer gerne für Geld oder teure Geschenke mit jungen attraktiven Frauen. Hat der Mann keine Lust mehr, bleiben die Geschenke aus. Die Frauen suchen sich einen neuen Sponsor.

Heute machen viele Frauen Karriere, doch die Gesellschaftsordnung ist nach wie vor zutiefst patriarchal. Der "Domostroj", das mittelalterliche Hausbuch, von einem Priester im 16. Jahrhundert aufgeschrieben, sah für die Frau die totale Unterordnung vor. Weder 70 Jahre Kommunismus noch zehn Jahre Kapitalismus haben daran viel geändert. Das Wort "heiraten" gilt im Russischen nur für den Mann. Für die Frau heißt es wörtlich übersetzt: "Hinter den Mann zu treten".

Selbst für die 24-jährige Karrierefrau Ljuba ist klar: "Eine Frau kann sich nur dann als Frau fühlen, wenn sie einen starken Mann an ihrer Seite hat." Illusionen macht sie sich keine: Liebe gebe es höchstens drei oder vier mal im Leben. "Ich suche lediglich eine normale und stabile Beziehung."

In Russland, sagt die Sexualwissenschaftlerin Dilja Jenikejewa, seien die Frauen nicht so selbstbewusst und unabhängig wie im Westen. Auch wenn sie Karriere machen, wünschen sie sich in erster Linie Kinder und eine Familie. Und wer mit 25 Jahren noch nicht verheiratet ist, gilt als alte Jungfer. Daher, so Jenikejewa, betonen die russischen Frauen ihre Weiblichkeit. "Unsere Schönheit ist unser wichtigster Trumpf im Kampf um einen guten Mann."

Nach wie vor sind die Frauen bereit, dem Mann zu dienen, aber dafür erwarten sie, dass ihr Partner in der Lage ist, die Familie selbständig zu ernähren.

Doch im Gegensatz zu den flexibleren Frauen finden sich die Männer in der neuen Ordnung oft schlechter zurecht. In der Krisenzeit der 90-iger Jahre nahm ihr Alkoholkonsum drastisch zu. Laut Statistik raffte der Suff in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres knapp 25 000 Russen dahin. Die Frauenorganisation "Anna", die sich um Opfer von Gewalt gegen Frauen kümmert, spricht von 12 000 bis 16 000 Frauen, die jährlich durch Gewalt der Männer umkommen.

In Moskau kommen auf drei Eheschließungen zwei Scheidungen. Zwei Drittel aller Scheidungen werden von den frustierten Ehefrauen eingereicht. Nach emotionaler Enttäuschung steht der unbefriedigende wirtschaftliche Status auf der Liste an zweiter Stelle. "Die Männer degradieren und verhalten sich wie der ‘dumme Iwan’ im Märchen: Er sitzt auf dem Diwan und wartet auf das große Glück," so Jenikejewa.

Sascha deutet auf die Tanzfläche im "Boar House" und erhebt sein Glas Bier: "Auf die russischen Mädchen. Sie sind die schönsten und die besten." Sascha, ein Arbeitskollege von Ljuba, ist 27 und hat eine feste Freundin. Aber die mag keine Klubs und laute Musik. Sascha ist das sehr recht, er amüsiert sich ohnehin lieber ohne sie. "Schöne Frauen gibt es hier, wie Sand am Meer, du musst nur zugreifen."

Freie Wochenenden verbringt Sascha gerne mit "Aktivurlaub", wie er es nennt. "Mit ein paar Freunden auf die Datscha, ein paar Mädels mieten und dann geht es ab." Die Vororte von Moskau sind das ideale Rivier, "da sind die Mädchen billiger".

Sascha sagt: "Bei uns sind die Frauen wie eine Spardose, je mehr du reinsteckst, desto mehr erhältst du". In einigen Jahren will er nach Kanada oder Amerika auswandern. "In Russland gibt es keine Demokratie, aber gute Frauen." Im Westen sei es genau umgekehrt. Daher will er noch in der Heimat heiraten, bevor er geht.

Dass im Westen viel über Gleichberechtigung diskutiert und gestritten wird, kann Sascha nicht verstehen. "Wenn Frauen die gleichen Jobs in Politik und Wirtschaft machen wie die Männer, benehmen sie sich auch wie Männer und legen ihre Weiblichkeit ab. Wo bleibt da der Unterschied zwischen den Geschlechtern?" Inzwischen hätten das selbst die Amerikaner begriffen. "Jetzt kommen sie nach Russland, um sich eine Frau zu angeln."

Als Ljuba von der Tanzfläche an die Bar zurückkehrt, spendier Sascha ihr noch ein Bier. Seine Hand fährt über ihren Hintern. Er versucht sie zu küssen, doch Ljuba schiebt ihn weg. Betrunken und gekränkt zieht Sascha ab. Für heute Nacht hat Ljuba die Nase voll. Ohne den starken Mann an ihrer Seite bestellt sie ein Taxi. "Meine Großmutter hatte Recht", sagt Ljuba zum Abschied, "die hat schon immer gesagt, in Russland sind die Männer zu nichts zu gebrauchen, weder im Bett noch in der Roten Armee."

Stephan Hille lebt in Moskau. Er ist Korrespondent der Schweizer Zeitschrift „Die Weltwoche“.

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