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Professor Bonwetsch liest in der Pädagogischen Hochschule in Woronesch. (Foto: Weien/.rufo) |
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Mittwoch, 20.04.2011
Woronesch: Gemeinsame Erinnerungskultur, Teil IWoronesch. Im südrussischen Woronesch diskutierten Historiker und Menschenrechtler über deutsche und russische Geschichte. Es ging dabei vor allem um die Erinnerungskultur und die Überwindung von Totalitarismus.
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Susann Weien legt die Vorgeschichte und die Ereignisse in und um Woronesch für russland-aktuell.RU dar.
Vor sieben Jahren recherchierte die junge koreanische Wissenschaftlerin Youngok Kang-Bohr in Woronescher Archiven, um in Pionierarbeit die erste deutschsprachige Studie über stalinistische Verfolgungen in der russischen Provinz zu schreiben.
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Kuriosum sorgt für Aufregung
Das Kuriosum sorgte unter einheimischen Historikern und Memorial-Aktivisten für einiges Aufsehen und Erstaunen. Betreut wurde ihre wissenschaftliche Arbeit von dem Deutschen Bernd Bonwetsch, damals Professor am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Ruhr-Universität Bochum.
Es entstand das für Woronesch einzigartige Buch: Das Gebiet Woronesch 19341941: Eine Studie zum Stalinismus in der landwirtschaftlichen Provinz, erschienen im Verlag Klartext, 2005.
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Professor Bonwetsch mit Vorträgen in Woronesch
Professor Bonwetsch, mittlerweile emeritiert und in Dänemark ansässig, war in der vergangenen Woche, nunmehr in seiner Eigenschaft als Gründungsprofessor des Moskauer Deutschen Historischen Instituts, selbst zu Gast in Woronesch.
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Vom 13. bis zum 15. April hielt er vor Studenten, Hochschullehrern, Menschenrechts- und Memorial-Aktivisten drei bemerkenswerte Vorträge, die jeweils aus deutsch-russischer Perspektive Erinnerungskultur und die Überwindung des Totalitarismus zum Gegenstand hatten.
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Ganz unterschiedliche Formen des Gedenkens
Das Gedenken an das gemeinsame Kriegsereignis könnte in seiner konkreten nationalen Form in Deutschland und Russland unterschiedlicher kaum sein. Deutsche Gedenkorte wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas oder die Kaiser-Wilhelm Gedächtniskirche in Berlin sind stille und schweigende Zeugen. Sie zwingen zum Nachdenken, mahnen vor Krieg und Vernichtung.
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Umbettung von Opfern des stalinistischen Terrors. (Foto: Weien/.rufo) |
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Im Unterschied dazu und im Kontext der Siegerkonstellation finden sich in Russland überwiegend kämpferische und heroische Siegesmonumente, beispielsweise in Wolgograd die Mutter Heimat, siegreich, stark und kampfeslustig oder auch das 2005 errichtete pompöse Siegesmonument der Gedenkanlage Park des Sieges in Moskau.
Geht ein Vergleich überhaupt?
Lassen sich so diametral verschiedene Erinnerungskulturen der Besiegten und der Sieger wie die deutsche und die russische überhaupt vergleichen und wenn, dann zu welchem Zweck?
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Zum Auftakt der Vorträge und Diskussionen in Woronesch breitete Bonwetsch unter dem Titel "Der Zweite Weltkrieg und das nationale Gedenken in Deutschland und Russland" vor seinen Zuhörern die ganze historische Spannbreite kollektiver Erinnerung seit 1945 aus.
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Individuelle und spontane Erinnerung wird in der Kommunikation als kollektive Erinnerung ausgehandelt. Kollektive Erinnerung verändert sich abhängig vom historischen Kontext politischer Interessen und Konstellationen, so Bonwetsch.
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Von der Perestroika zurück zum staatlich verordneten Patriotismus oder Erinnerungskultur mit menschlichem Antlitz?
Mit der Perestroika öffneten sich in der Sowjetunion die "Erinnerungsschleusen" und lange vernachlässigte persönliche und leidvolle Kriegserfahrungen erhielten Artikulationsräume. Die Debatten jener Zeit in der Sowjetunion spiegelten eine Konkurrenz der Erinnerungskulturen wider.
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In den letzten Jahren nehmen die staatlichen russischen Strukturen jedoch wieder größeren Einfluss auf die kollektive Erinnerung. Bonwetsch machte auf den Zusammenhang zwischen Erinnerungskultur und Überwindung des Totalitarismus aufmerksam.
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In breiten Kreisen der russischen Bevölkerung wird der idealisierte Sieg im Großen Vaterländischen Krieg mit der siegreichen Führung Stalins gleichgesetzt. Das erschwere die Überwindung des Totalitarismus.
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Es könne der Eindruck entsehen, dass sich die russische Erinnerungskultur seit den letzten dreißig Jahren grundsätzlich kaum verändert habe und dass sich in der gelenkten Demokratie auch die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg auf den Sieg über den Faschismus reduziere.
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Natalja Timofejewa und Bernde Bonwetsch auf dem Deutschen Soldatenfriedhof Jemantscha. (Foto: Weien/.rufo) |
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Vorsichtiger Optimismus
Natalja Timofejewa, Initiatorin der Veranstaltung und Leiterin des Zentrums für Mündliche Geschichte in Woronesch, kommentierte diese Überlegungen vorsichtig optimistisch. Es gebe erfreuliche Tendenzen vor allem in der russischen Geschichtspädagogik und Geschichtswissenschaft.
In den letzten Jahren sind an russischen Hochschulen neun Forschungszentren für mündliche Geschichte (Oral History) entstanden, die ihr Material aus der unmittelbaren und authentischen Überlieferung schöpfen. Die Tendenz zur empirischen Forschung könnte auch für die offizielle russische Erinnerungspolitik Anstoß zur Veränderung sein.
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Die Besonderheit der russisch-sowjetischen Erinnerungskultur beschreibt sie als eine "Enttraumatisierung", die Kriegsalltag und Kriegsleid ausblende. Ihrer Meinung nach müsse das Allgemeinmenschliche der Kriegserfahrung viel stärker in den Mittelpunkt der Geschichtsforschung und der Erinnerungskultur rücken.
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Vielfalt der Erinnerungskulturen im Gebiet Woronesch
Im Gebiet Woronesch sind die Erinnerungsorte und - anlässe so vielfältig und verschieden wie in kaum einer anderen Region der Russischen Föderation. Es gibt eine ausgesprochene Pluralität der Erinnerungskulturen aber auch verblüffende Versöhnungsgesten.
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Das passt nur bedingt in das Schema des siegreichen Patriotismus. Professor Bonwetsch nahm seinen Besuch in Woronesch zum Anlass, um mehrere in jüngster Zeit entstandene Erinnerungsorte genauer in Augenschein zu nehmen.
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Ziel der Exkursion an seinem zweiten Besuchstag waren der Deutsche Soldatenfriedhof in Jemantscha, der Zentrale Ungarische Soldatenfriedhof in Udkino und das im letzten Jahr eröffnete Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten in Gremjatsche.
Die drei Orte befinden sich in unmittelbarer Nähe und südlich von Woronesch. Die deutsche Wehrmacht, ungarische und italienische Truppen hielten Stadtbezirke von Woronesch und das Gebiet um die Stadt vom Juli 1942 bis Januar 1943 besetzt.
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Im Januar 1943 vertrieb die Sowjetarmee die deutschen Truppen während des Angriffs Ostrogoschsk-Rossosch. Die im Süden von Woronesch stationierte 2. königlich-ungarische Armee und die 8. italienische Armee wurden vollständig zerschlagen. Bereits Anfang der 1990er Jahre errichteten die Italiener in Rossosch ein Denkmal für die gefallenen italienischen Soldaten.
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Soldatenfriedhöfe nicht unumstritten
Die Initiative, einen Zentralen Ungarischen Soldatenfriedhof in Rudkino, südlich von Woronesch, einzurichten, ging von lokalen Enthusiasten wie dem Museumsdirektor Juri Kaschkin und der Assoziation Kriegsdenkmäler aus.
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Ein Streit mit den Behörden um den rechtmäßigen Erwerb des Friedhofsgeländes durch die ungarische Regierung verzögerte die Eröffnung jedoch und zog sich über Jahre hin. Die Auseinandersetzung endete schließlich mit einer Einigung über Entschädigungszahlungen der Ungarn an die Gebietsverwaltung.
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Die kunstvoll gestalteten Friedhofsgedenkanlagen für die Deutschen und ihre Verbündeten stießen vor Ort nicht bei allen auf Zustimmung. Aufgrund von Protesten und Kritik aus der Bevölkerung wurden im Gegenzug zwanzig Millionen Euro der ungarischen Entschädigungszahlungen auf die Errichtung eines Ehrenmals für die gefallenen sowjetischen Soldaten in Gremjatsche verwandt.
(Susann Weien/.rufo)
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