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Lieder über das Leben im Gefängnis sind auch unter rechtschaffenden Bürgern populär (Foto: Denejka/.rufo)
Lieder über das Leben im Gefängnis sind auch unter rechtschaffenden Bürgern populär (Foto: Denejka/.rufo)
Dienstag, 24.01.2006

Halb Russland hört Ganovenlieder

Karsten Packeiser, Moskau. In wohl keinem Land der Erde sind Lieder über das Leben im Knast so populär wie in Russland. Die Interpreten sind ein eigenwilliger Teil des Show-Geschäfts und haben Millionen Fans.

Männer mit krächzenden Stimmen singen begleitet von billiger Synthesizer-Musik über verräucherte Bars, die hinter Gefängnismauern verlorene Freiheit und die untreu gewordene Freundin daheim. Ganze Radiosender haben sich auf die Ganovenmusik spezialisiert. Und Handy-Besitzer können sich die Melodie des Unterwelt-Hits „Zentralgefängnis von Wladimir“ als Klingelton aus dem Internet herunterladen.

Räuberprinzessin Murka in der Duma-Kantine


Der oppositionelle Duma-Abgeordnete Andrej Saweljew beklagte bereits die Allmacht der Knastmusik: „Wenn wir zum Mittagessen in die Parlamentskantine runtergehen, werden wir selbst da mit dem Lied über die Räuberprinzessin Murka empfangen.“ In der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurde den Fahrern der populären städtischen Sammeltaxis das Abhören der Unterweltmusik bereits per behördlichem Erlass verboten.

Audio bei www.aktuell.RU
Michail Krug: Zentralgefängnis von Wladimir
Dabei empfinden viele Interpreten, die gerne, aber nicht ausschließlich über das Leben hinter Gittern singen, den Begriff „Ganovenmusik“ schon fast als beleidigend. Russische Musikkritiker mühen sich seit Jahren, der allgegenwärtigen Stilrichtung den richtigen Namen zu geben. Als politisch korrekte Bezeichnung setzt sich langsam der Begriff „russischer Chanson“ durch.

Als goldene Ära des Genres gelten die Jahre nach dem Ende des russischen Bürgerkrieges, als Revolutionsführer Wladimir Lenin seine „Neue Ökonomische Politik“ ausrief und Selbstbereicherung offiziell nicht mehr ganz so stark verteufelt wurde. In den großen Städten bildete sich eine Schicht von Neureichen, die mit Schiebereien und Gaunereien zu ihrem Geld gekommen waren. In den Schlagern jener Zeit spiegelt sich oft eine verklärte Ganoven-Romantik wider.

Seele und Moral erhalten


Audio bei www.aktuell.RU
Viktor Gagin: Besucht uns an der Kolyma
Später galten Ganovenlieder jedoch als tabu und wurden vom Sowjet-Radio boykottiert, auch nach Stalins Tod. Die Hits von Interpreten wie der in die USA emigrierten Sänger Willi Tokarew und Mischa Schufutinski verbreiteten sich schon zu Breschnews Zeiten dennoch rasend schnell im ganzen Land – unter der Hand und auf bis zur Unverständlichkeit immer weiter kopierten Audiokassetten. Als die beiden von den Kulturbehörden zu Aussätzigen erklärten Männer während der Perestroika-Zeit wieder in ihre alte Heimat zurückkehren durften, füllten sie mühelos Konzertsäle und Fußball-Stadien.

„Das russische Volk hat viel durchlitten“, erklärte Chef-Chansonnier Schufutinski die Vorliebe seiner Landsleute für Lieder, in denen es um Straflager und Gefangenentransporte nach Sibirien geht. „Es wurde 500 Jahre lang fertiggemacht. Aber erstaunlicherweise haben die Leute noch immer ihre Seele und Moral.“

Text-Hilfe von der Geheimpolizei


Was die Unterwelt-Musik für die etablierte Kulturszene besonders suspekt macht, ist der für rechtschaffende Bürger eigentlich unverständliche Ganoven-Slang, in dem z.B. Geldscheine „kleine Weiber“ und Polizisten „Müll“ genannt werden. Der 2002 vermutlich von Einbrechern ermordete Sänger Michail Krug ließ sich von einem Jahrzehnte alten Wörterbuch inspirieren, das einst zum Dienstgebrauch für Stalins Geheimpolizisten gedruckt worden war.

Andere Interpreten mussten den Knast-Jargon nicht erst erlernen, denn viele von ihnen können auf hautnahe eigene Erfahrungen mit der Welt der russischen Gefängnisse und Straflager zurückblicken.

Mehr dazu im Internet
• Shanson-Info (incl. kostenpflichtigem mp3-Archiv)
• Webseite des Radiosenders "Radio Chanson"
• Michail-Krug-Fanseite

www.aktuell.RU ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten.
Der Knast-Barde Wladimir Wolschski, der insgesamt 20 Jahre hinter Gittern verbrachte, schrieb dort an die 500 Lieder und zugleich Musikgeschichte: Vor ihm war es vermutlich noch niemandem gelungen, im Gefängnis hintereinander gleich vier professionelle Solo-Alben zu produzieren.

Roter Holunder verspricht Entlassung auf Bewährung


Auch dank dieser Leistungen schaffte Wolschski es ins Finale des Wettbewerbes „Kalina Krasnaja“ („Roter Holunder“). Der musikalische Künstler-Wettstreit für Gefängnishäftlinge wird inzwischen sogar vom landesweiten staatlichen Radio ausgestrahlt. Den Siegern winkt die vorzeitige Freilassung auf Bewährung – ein Hoffnungsstrahl für viele der derzeit etwa 900.000 russischen Strafgefangenen.

Organisatoren des Wettbewerbes sind sich sicher, dass die Verurteilten Straftäter durch die Musik nicht nur beginnen, ihre früheren Taten zu überdenken: „Sie ändern sich, gewinnen eine innere Freiheit und spüren den Drang, ein anderes Leben zu beginnen“, heißt es auf der Webseite des „Roten Holunder“.

Selbst viele Russen, die ansonsten nichts von der Räuber-Romantik der kommerziellen Ganoven-Lieder halten, sind von den Häftlings-Liedern gerührt. „Das sind so schöne Melodien und Texte, die ans Herz gehen“, schwärmt eine Moskauer Rentnerin, die die Knast-Poesie kürzlich für sich entdeckte, „Ganz anders, als die grässliche Popmusik, die sonst überall gespielt wird.“

Karsten Packeiser (epd)


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