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Dienstag, 24.05.2005

Gorbatschow: Perestroika ist auch heute aktuell

Moskau. Für Russland-Aktuell schreibt Michail Gorbatschow, warum es keinen Autoritarismus und keine Rückkehr in die Vergangenheit gibt. Und warum Putins Administrationschef besser abtreten sollte.

Von Michail Gorbatschow, Moskau. Die Perestroika begann vor 20 Jahren. Sechs Jahre später brach sie ab. Und sie siegte doch. Warum ?
Kurz gesagt: sie hat das Land bis an einen Punkt gebracht, von dem es keine Rückkehr in die Vergangenheit geben kann.

Es hat noch Rückschläge und Dramen gegeben und es wird sie weiter geben. Wahrscheinlich wird es noch einige Zeit dauern, bis wir uns an einem Ort befinden, der sich ein blühendes, ruhiges Staatswesen nennen kann. Aber die Perestroika hat dennoch den Durchbruch zur Freiheit geschaffen.

Unstrittig sind auch ihre Errungenschaften auf der internationalen Ebene. Es gibt keinen Kalten Krieg mehr. Russland ist ein offenes Land. Viele Konflikte – wie zum Beispiel Afghanistan – sind beseitigt. Die Beziehungen zu China, Europa und Amerika normalisieren sich. Kurz – auch in der Welt draußen wurde viel erreicht.

Die Perestroika wurde in dem Moment abgebrochen, als es endlich den neuen Unionsvertrag gab, der die Union erhalten, aber dezentralisiert hätte. So wäre der Weg zur Desintegration versperrt worden. Das war das, was nötig gewesen wäre. In der Union wären mindestens zehn, vielleicht auch 12 Republiken geblieben.

Wenn die Perestroika weitergegangen wäre, wenn neue Parteien entstanden wären, wenn das Anti-Krisen-Programm realisiert und der neue Unionsvertrag unterschrieben worden wäre, dann hätte die Geschichte einen ganz anderen Lauf genommen. Wir wären offensiv nach vorn gegangen, hätten Erfahrungen gesammelt und eine marktwirtschaftliche Infrastruktur aufgebaut. Das wäre im Rahmen eines sozial-demokratischen Projektes nötig gewesen: sowohl das aufzunehmen, was mit sozialer Gerechtigkeit und Sozialismus zu tun hat, als auch das, was mit dem Kapitalismus zu tun hatte – Anreize für die Arbeit und so weiter.

Nicht die Perestroika hat die Sowjetunion zerstört, sondern ihre Gegner

Nicht die Perestroika hat die Sowjetunion zerstört, sondern ihre Gegner. Am Vorabend der Unterzeichnung des Unionsvertrages organisierten Vertreter der höchsten Nomenklatur, die sehr wohl spürten, dass sie unter den Bedingungen einer neuen demokratischen Verfassung des Landes das „Recht“ auf unkontrollierte Machtausübung verlieren könnten, einen Staatsstreich. Das Volk unterstützte den Putsch nicht. Aber dem Unionsvertrag war ein schwerer Schlag versetzt worden.

Die Perestroika ist auch heute aktuell.

Putin hat in seiner ersten Amtszeit viel getan. Er hat das Chaos aufgehalten. Stabilität entwickelte sich. Voraussetzungen für den Wirtschaftsaufschwung tauchten auf. Das, was wir nach der Wiederwahl des Präsidenten in seiner Botschaft an die Föderationsversammlung gehört haben, war ein Programm, das wir mit Befriedigung aufnahmen: Es umfasst Einkommenssteigerung, Rentenerhöhung, Erhöhung der Stipendien für Studenten. Es geht um Modernisierung der verarbeitenden Industrie und - dank neuer Technologien - um die Entwicklung zur postindustriellen Gesellschaft. Und – was besonders wichtig ist – es geht um die Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmer, um den Kampf gegen Korruption und Armut.

Präsident Putin wird in die Geschichte eingehen, wenn er den Weg zur Modernisierung, zur Einkommenssteigerung, zum Kampf gegen die Korruption, zur Kräftigung und Entwicklung der Demokratie gewährleistet.

Die Geduld der Menschen ist erschöpft

Allerdings ruft die Politik der jetzigen Regierung bei vielen Beunruhigung hervor. Das Gesetz zur Umwandlung von Sozialleistungen in Geldzahlungen - die Monetarisierung - war nicht gründlich genug vorbereitet und allseitig diskutiert. Verständlich, dass es Proteste auslöste.

Der politische Kurs muss im Interesse der Nation entwickelt werden. Es muss erreicht werden, dass die brennendsten Fragen gelöst werden. Die Geduld der Menschen ist erschöpft. Das haben die Kundgebungen der Rentner und Veteranen gezeigt. Ich denke, dass wir dem Präsidenten helfen müssen. Wir dürfen nicht zulassen, dass er von Bürokraten diskreditiert wird, denen soziales Denken völlig abgeht.

Ich habe am eigenen Leibe erfahren, was der Begriff „Umgebung des Präsidenten“ bedeutet. Viele aus dieser „Umgebung“ kämpfen um Vermögen, um nach einigen Jahren an den Hebeln der Macht die Zukunft gesichert zu haben – für sich persönlich. Tatsächlich müsste an die Zukunft des Landes gedacht werden. Wir müssen Putin vor dem Einfluss solcher Menschen schützen. Aber der Präsident selbst muss auch eine dementsprechende Position einnehmen.

Wir müssen Putin vor dem Einfluss solcher Menschen schützen

Mich beunruhigt auch, was in den Massenmedien geschieht. Besonders im Fernsehen ist es schwer, mehr oder weniger umfassende und wahrhaftige Informationen darüber zu bekommen, was im Lande geschieht. Einige Methoden der Rechtsschutzorgane sind beunruhigend.

Bei Russland-Aktuell
• Putin geht, aber seine Mannschaft bleibt (04.04.2005)
• Putins kleines Politbüro regiert Russland (23.03.2005)
Aber ich bin davon überzeugt, dass Russland nicht den Weg des Autoritarismus eingeschlagen hat und auch nicht einschlagen wird. Eine Rückkehr in die Vergangenheit ist nicht möglich – wozu übrigens auch die Perestroika ihren Beitrag geleistet hat, die vor 20 Jahren begann.

Wenn du die Lage nicht beherrschst – solltest du abtreten

Und wenn der Leiter der Präsidentenadministration in Panik gerät und anfängt darüber zu reden, dass Russland als Staat zerfallen könnte, dann hilft das der Sache nicht. Wenn du die Lage nicht beherrschst – solltest du abtreten.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow, Moskau, 15.4.2004


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