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Die Götter zürnen im Theater - aber warum eigentlich? Szene aus dem von Studenten inszenierten Chlebnikow-Stück "Götter" (Foto: ld/.rufo)
Die Götter zürnen im Theater - aber warum eigentlich? Szene aus dem von Studenten inszenierten Chlebnikow-Stück "Götter" (Foto: ld/.rufo)
Dienstag, 21.08.2012

Schagadam Magadam - Avantgardistisches Unverständnis

Freiburg/Br. Kauzige Russen mit Geigen und Gedichten, eine maskierte Offenbacherin und als Götter verkleidete Studenten: Das Festival „Schagadam Magadam“ bot experimenteller Poesie einen ganzen Tag lang ein Forum.

Als die letzten Zuschauer gegen Mitternacht den alten Wiehrebahnhof in eine brühwarme Freiburger Nacht verließen, hatten sie fast acht Stunden auf dem Festival verbracht.

Acht Stunden hatten sie befremdlichen Sprachen gelauscht und beobachtet, wie verschiedene Kunstformen ineinander verliefen. Dass sie in dieser Zeit allzu viel verstanden hätten, konnten die wenigsten behaupten. Ein Kinofilm will man so selten verlassen, eine Romanlesung nicht und schon gar keine politische Veranstaltung; bei „Schagadam Magadam“ machte aber genau die Unwichtigkeit des Verständnisses den besonderen Reiz aus.

Russische Avantgarde kommt nach Freiburg


Mit dem Festival »Schagadam Magadam« erfüllte sich die russische Gastdozentin Dr. Juliana Kaminskaja, wie sie sagte, einen Traum: Sie wollte den Gästen die Faszination an der Verschmelzung von Wort und Bild, von Verständlichem und Transrationalem näher bringen – und dies unter aktiver Beteiligung einiger eigens aus ihrer Heimatstadt St. Petersburg angereister Künstler.

Es ging hier nicht darum etwas rational zu verarbeiten; im Grunde ging es um eine Abkehr: die Abkehr von Rezeptionsgewohnheiten. Ein Satz, ein Wort, ja gar ein Buchstabe, nichts war sicher vor den experimentierfreudigen Händen der Poeten. So blieben nicht zwingend bedeutungstragende Einheiten zurück, sondern Gebilde, die auf jeden Zuschauer eine individuelle Wirkung erzielen konnten.

Deutsch-russischer Lautmaler: Sergej Birjukow aus Halle (Foto: ld/.rufo)
Deutsch-russischer Lautmaler: Sergej Birjukow aus Halle (Foto: ld/.rufo)
Die Sprache war in diesen acht Stunden nicht Informationsträger, sondern vielmehr ein geometrischer Körper, mit dem die Künstler spielten. Ob es langgezogene, melodische Buchstaben beim russisch-deutschen Dichter Andrej Birjukow waren, oder drehbare Satzteile in den visuellen Gedichten des Moskauer Dichters Dimitri Avaliani - das Spiel mit der Sprache war überall.

„Überall“ - ein wichtiges Stichwort für die aufgeführte Kunst auf dem Festival. Viel Inspiration zieht diese aus der Zeit der historischen Avantgarden. Eine wichtige Maxime dieser Zeit war, dass die Kunst international anwendbar sein solle. Die Künstler des Festivals nahmen sich das zu Herzen: Einige Performances wären überall auf der Welt gleich (un)verständlich gewesen: Die Grenzen der Kommunikation, die durch verschiedene Sprachen entstehen, wurden auf dem Festival teilweise aufgebrochen.

Theater in einer unbekannten Sprache


Diese Leistung kulminierte im Theaterstück „Götter“ von Welimir Chlebnikow. Die Schauspieler redeten in der sogenannten Zaum-Sprache: Eine Kunstsprache, die universell anwendbar ist, weil sie ohnehin keiner versteht. Nicht weiter schlimm, da der Akt der Rezeption keiner sein sollte, den die Ratio zu vollziehen hatte.

Herkömmliche Kategorien der Einordnungen wurden hinfällig, in vielerlei Hinsicht musste man seine Gewohnheiten über Bord werfen. Wenn dann die Schauspieler irgendetwas heulten, jammerten, grunzten, dann wurden keine Informationen vermittelt, sondern Eindrücke.

Ob Chlebnikow (er starb 1922) eine spezielle Wirkungsintension für das Werk hatte, weiß nur er selbst. Am Ende des Stückes durfte sich darum jeder selber zu einer Interpretation hinreißen lassen. Vielleicht war da gar so etwas wie ein didaktischer Sinn? Die Götter beklagten in monotonem Geheule den Tod von anderen Göttern; unfähig miteinander zu leben hatten sie sich nach und nach selber umgebracht.

Wie in einem kindlichen Abzählspiel schied nach und nach einer aus. Nur schien keiner zu wissen, für was überhaupt abgezählt wurde. Das verklärte Götterbild der Antike bot dem Schauspiel zwar seinen ästhetischen Rahmen, das Wesen der Götter allerdings wurde auf den Kopf gestellt, wie so vieles an diesem Abend.

Botschafter der russischen Avantgarde: Regisseur Vadim Maximow und Organisatorin Juliana Kaminskaja (Foto: ld/.rufo)
Botschafter der russischen Avantgarde: Regisseur Vadim Maximow und Organisatorin Juliana Kaminskaja (Foto: ld/.rufo)
Innerhalb von nur einer Woche hatte Regisseur Prof. Vadim Maximow aus St. Petersburg das Stück mit Freiburger Studenten eingeübt. Eine ungeheure Leistung, verlangte doch das Stück in vielerlei Hinsicht den Schauspielern und Zuschauern besondere Leistungen ab. Denn neben der Zaum-Sprache hatte das Stück eine weitere charakteristische Eigenheit: die Simultanität des Bühnengeschehens. In einer Ecke der Bühne lieferten sich zwei Gottheiten einen Kampf, während in der anderen eine ägyptische Gottheit merkwürdige Dinge mit einer Puppe veranstaltete.

„Viermal so viel Aufmerksamkeit“ forderte der Regisseur in seiner Ansprache vor dem Stück vom Zuschauer. Wer enttäuscht war, dass diese Aufmerksamkeit nicht zu einer eindeutigen Erkenntnis führte, war gezwungen die eigenen Erwartungen zu hinterfragen. Warum erwarte ich Gesehenes erklären zu können? Woher kommt dieser Interpretationszwang?

Dem Zuschauer wurde hier nichts Greifbares gegeben, es gab kein Sendungsbewusstsein unter den Künstlern. So entstand Platz zu einer anderen Form von Aufnahme, der verschiedenen Kunstformen an diesem Abend.

Poesie-Performance mit Strumpf überm Kopf


Einen der faszinierendsten Auftritte lieferte Roza Rueb aus Offenbach am Main. Poesie verschmolz bei ihr mit einer visuellen Performance. Der Saal war ganz verdunkelt, als Rueb eine Eieruhr stellte und danach ohne eine Geste die Bühne betrat. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wurde dennoch direkt gefordert, ja provoziert.

Rueb zog ihre weiße Strumpfhose aus; langsam und gedankenverloren, als würde sie sich schlafen legen. Der Zuschauer befand sich - ob er es wollte, oder nicht - in er Rolle des Voyeurs. Innerhalb von wenigen Sekunden allerdings wandelten sich die Rollen. Rueb zog sich die Strumpfhose über ihren Kopf; so schielte plötzlich die Fratze einer Fantasiegestalt oder eines Einbrechers in die eigenen vier Wände.

In immer wieder leicht abgeänderten Versionen wiederholten sich die Sätze - Rueb spannte um sie ein Konstrukt ohne Punkt und Komma, in dem sich auch ein Leitspruch des Abends manifestierte: Wenn alles verständlich sein müsste, dann müsste unser Universum implodieren. Wenn der Zuschauer diese Aussage herausgehört hatte, so fiel ihm eine bemerkenswerte Analogie zwischen der anfänglichen Strumpfhosen-Nummer und dem Vortrag auf: So wie sich eingangs der Performance das Verhältnis von Künstler und Zuschauer veränderte, so veränderte sich auch das Verhältnis von Literatur und Zuschauer.

Indem er der Künstlerin zuhörte und versuchte, Sinneinheiten in der Endlosschleife aus Worten zu finden, war er derjenige, der die Literatur hinterfragte. Sobald er aber finden konnte, was er suchte, musste er erkennen, dass die Aussage ist: Suche nicht nach dem Sinn, denn darauf ist unsere Universum ohnehin nicht aufgebaut.

Die Literatur blickte nun auf den Zuschauer und zwang ihn (wenn man die Personifikation mal so weit treiben will) die eigene Einstellung zur Literatur zu hinterfragen. Während des ohnehin komplexen Vortrages projizierte ein Beamer etliche winzige Figuren auf die Wand. In vielen Reihen standen sie untereinander und nebeneinander, auch über dem Gesicht der Künstlerin, die selbst zur Projektions-Fläche wurde.

Irgendwann bemerkte man, dass sie sich bewegten. Hier bewegte sich eine Figur, dort eine andere. Doch was genau machten Sie? Es war wie ein kleines psychologisch Experiment. Denn niemand konnte alle Bewegungen gleichzeitig wahrnehmen; man richtete sein Auge auf einzelne Vorgänge: So sah man entweder einen Faustkampf, Sex oder einen Tanz.

Ja, Siegmund Freud hätte ein wahres Vergnügen daran gefunden, im Anschluss Einzelne nach ihren Entdeckungen zu befragen. Nach einiger Zeit fingen die ersten Figuren an von Bild zu fallen, bröselten vom Bild wie der Putz von einem Haus. Dann klingelte die Eieruhr. Rueb verließ die Bühne.

Zur Erholung gab es Performances, bei welchem vor allem ein ästhetisches Wahrnehmen im Vordergrund stand. Bei Günter Wallaster aus Wien beispielsweise, der mit seiner visuellen Poesie den modernsten Beitrag am Abend anbot.

In seiner Mischung aus Text und Bild war ein deutliches Interesse für zeitgenössisches Grafikdesign zu sehen. Einen minimalistischen Ansatz verfolgten seine Darstellungen, nach dem Motto „Weniger ist Mehr“. Ein Motto nach dem fast alle Grafikabteilungen großer Unternehmen heutzutage arbeiten.

Erfrischend, wenn auch auf ganz andere Art und Weise, war ebenso der Auftritt des doppelten Boris. Boris Konstriktor und Boris Kipnis, ebenfalls aus St. Petersburg angereist, hatten mit ihrer kauzigen Art das Publikum gleich auf ihrer Seite.

Ihre philosophischen, lebensnahen Themen, konnte zwar (ob der russischen Sprache) nicht jeder verstehen, die Emotionen kamen trotzdem an. Das lag vor allem an der Verbindung von Text-Vortrag und Geigenspiel, von der sensiblen Variation von Duktus und Mimik.

"Taktile Verse" - als verwirrendes Schauspiel


Am greifbarsten für die Zuschauer war die Inszenierung der taktilen Verse des Moskauer Dichters Genrich Sapgir durch Freiburger Studenten. Das lag sicherlich daran, dass viele der Gedichte doch einen gewissen Interpretationsansatz suggerierten. Eine noch wichtigere Rolle spielte allerdings, dass die Studenten dazu verschiedene Gegenstände benutzten, um die vorgetragenen Gedichte lebendiger zu machen.

Ob eine Zitrone, ein Luftballon oder Sandkörner - es war diese Gegenständlichkeit, die dem Betrachter half und ihm ein Fundament gab, auf dem er seine Wahrnehmung aufbauen konnte. Jeder Mensch verknüpft mit Gegenständen und Substantiven etliche weitere Dinge: Ein Tisch ruft den Gedanken an den Stuhl hervor, an Holz, aber auch an das Sitzen, an Mahlzeiten mit der Familie. Dass das Figurative mit weiten Assoziationsfelder verknüpft ist, machte die Aufführung letztlich so lebendig.

Auch die Verknüpfung mit den Sinnesorganen trug zu diesem Eindruck bei: Wenn es im Gedicht um Wodka ging, wurde Wodka ausgeschenkt, wenn es im Gedicht um Wind ging, pfiff es durch die lose im Raum stehenden Zuschauer. Das Raffinierteste aber war, dass die Erwartungen des Betrachters an die Gegenstände und die Sinneswahrnehmung nicht immer erfüllt wurden.

Mit weit aufgerissenem Mund biss einer der Schauspieler in eine Zitrone, als wäre sie ein saftiges Hühnchen. Während er begeistert das Fruchtfleisch der Zitrone zerkaute, verglich er die Zitrone mit allem Möglichem: Einer Schokolade, einem Keks, ja sogar mit einer Handgranate - „nur explodiert sie nicht“.

Als Betrachter fühlte man sich, als hätte man ein Knoten in den eigenen Sinneswahrnehmungen. Auf der einen Seite sah man, dass der Schauspieler in eine Zitrone biss, auf der anderen Seite regten die Worte die Fantasie an und man konnte sich vorstellen, dass diese Zitrone tatsächlich süß schmeckte.

Mail-Art: Wenn Kunst per Post entsteht


Das Gesprochene im Widerspruch mit dem, was man sah - das Beispiel mit der Zitrone war nicht das letzte dieser Art. Am Ende des Festivals wurden Papierzettel an die Zuschauer ausgeteilt, auf welchen allerdings stand: »Das ist kein Zettel, das ist ein(e)...«. Die Zuschauer hatten die Aufgabe den Satz zu Ende zu führen.

Es war Fantasie gefragt. Die Ergebnisse reichten von »Das ist kein Zettel, das ist eine Unverschämtheit« bis hin zu »Das ist kein Zettel, das ist ein schwarzer Raum«. Die Zettel wurden schließlich auf ein Plakat geklebt und von nun an von Künstler zu Künstler geschickt, die das Werk um ihren jeweiligen Beitrag erweitern - Mail-Art nennt sich das.

Die Mail-Art-Aktion, die das Festival beendete, fasste dessen Grundidee letztendlich hervorragend zusammen: Experimentelle Poesie ist oft international konzipiert, bedient sich Elementen aus verschiedensten Künsten und vor allem muss die Kunst keinen Sinn machen.

Und so saßen sie am Ende alle gemeinsam da: Die kauzigen Russen, die (nun nicht mehr maskierte) Offenbacherin und die Studenten - denn vielleicht ist das gar das Schönste nach einem Abend voll experimenteller Poesie:
Das freie Assoziieren mit allen Beteiligten, was man denn jetzt bei welcher Aufführung gesehen zu haben meint.

(Philipp Kunze/.rufo)


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