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Anschlagsopfer Kadyrow (foto: ntv) |
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Sonntag, 09.05.2004
Grosny: Die Bombe am SiegestagVon Lothar Deeg, St. Petersburg. Minuten vorher hatte Tschetscheniens Präsident Achmed Kadyrow noch eine Rede gehalten, den Tag des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg als einen alle Völker Russlands vereinigenden Feiertag gewürdigt und allen Einwohnern der Republik Frieden gewünscht. Dann knallte es, Trümmer fliegen. Schreie, Panik, Schüsse von wem auf wen, ist nicht zu sagen. An der Stelle, wo sich die Ehrentribüne im Sportstadion von Grosny befunden hatte, klaffte ein Loch. Kadyrow wird blutüberströmt aus den Trümmern gehoben. Er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.
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Eine Militärparade der örtlichen Garnison vor der lokalen Prominenz, anschließend ein Festkonzert unter freiem Himmel für die ordensbehängten Kriegsveteranen so wird in jeder Region Russlands seit alther der arbeitsfreie Tag des Sieges am 9. Mai begangen. Tschetschenien war seit seiner gewaltsamen Wiedereingliederung in den russischen Staatsverband dabei keine Ausnahme außer dass dieses Spektakel dort aus Gründen der Ästhetik wie der Sicherheit nicht im in Ruinen liegenden Stadtzentrum, sondern im Sportstadion stattfand.
Vor einem Jahr war beim gleichen Anlass vor der Arena eine Bombe explodiert, die einen Toten forderte. Doch wie sich am Sonntag zeigte, war auch im Innern die Moskau-treue Führung der Republik und die obersten Militärs nicht sicher vor den permanent drohenden Attacken der Separatisten. Die Bombe war von den Attentätern offenbar schon vor geraumer Zeit unter der Tribüne eingemauert worden und wurde über ein verstecktes Kabel gezündet. Ein zweiter Sprengsatz wurde später gefunden und entschärft.
Bei der Explosion starben nach höchst widersprüchlichen Angaben verschiedener Behörden zwischen 4 und 32 Menschen. Über 50 wurden verletzt. Neben Kadyrow kam auch der Vorsitzende des Staatsrates, Hussein Issajew, ein Korrespondent der Agentur Reuters sowie ein achtjähres Mädchen ums Leben. Der Oberkommandierende der russischen Truppen im Nordkaukasus und damit der direkte militärische Gegenspieler der Aufständischen, Generaloberst Valeri Baranow, wurde schwer verletzt. Er verlor ein Bein. Auch Grigori Fomenko, der Militärkommandant Tschetscheniens, wurde verletzt.
In Moskau empfing Wladimir Putin den Sohn Kadyrows und sagte, dessen Vater sei heldenhaft und unbesiegt aus dem Leben geschieden. Ramsan Kadyrow war gekommen wie er war, in Jeans und Sportjacke, und hatte sichtlich Mühe, Fassung zu bewahren. Denn das, was geschehen war, hätte er eigentlich verhindern müssen: Kadyrow junior kommandierte die Leibwache des tschetschenischen Präsidenten eine veritable Privatarmee mit dem zweifelhaften Ruf, für einen Gutteil der brutalen Übergriffe und verschwundenen Menschen im Land verantwortlich zu sein. Nicht auszuschließen, dass Verräter in den eigenen Reihen am Werk waren.
Auf Kadyrow waren nach eigenen Angaben schon über zehn Mordanschläge verübt worden. Er war in Tschetschenien eine ebenso geachtete wie verachtete religiöse und politische Führerfigur: Im ersten Tschetschenienkrieg rief er als Mufti Tschetscheniens die Moslems noch zum Heiligen Krieg gegen die Russen auf. Doch erwies er sich gleichzeitig als entschiedener Kämpfer gegen die radikale Ideologie des Wahhabismus, dem viele der Feldkommandeure anhingen. So kam es zum Zerwürfnis mit Präsident Aslan Maschadow und dessen Terror-Warlord Schamil Bassajew. Im zweiten Tschetschenienkrieg ermöglichte Kadyrow dann die kampflose Besetzung seiner Heimatprovinz Gudermes durch russische Truppen.
Putin dankte dem religiösen Oberhaupt der Tschetschenen für den Seitenwechsel, indem er ihn zum Chef einer neuen Ziviladminstration machte. Im Herbst 2003 wurde Kadyrow in demokratisch äußerst fragwürdigen Wahlen mit über 80 Prozent der Stimmen zum Präsidenten der Republik bestimmt. In Grundsatzfragen absolut Kreml-treu, erlaubte er sich von Fall zu Fall dennoch heftige Kritik an der Willkür russischer Soldaten und Geheimdienstler.
Kadyrows Bemühen, dem radikalen Widerstand das Wasser abzugraben und aus Tschetschenien eines Tages wieder ein normales, von Tschetschenen verwaltetes Föderationsgebiet zu machen, wurde durch die zu Partisanen- und Terrormethoden übergegangenen Widerständler immer wieder zurück geworfen. So sprengten im Dezember 2002 Kamikaze-Attentäter in Grosny das ganze Regierungsgebäude in die Luft, über 80 Menschen starben.
Nach Kadyrows Tod rückte gemäß der tschetschenischen Verfassung der bisherige Premierminister Sergej Abramow zum amtierenden Oberhaupt der Republik auf. Putin trug ihm auf, die bisherige Politik fortzusetzen. Bis zum 9. September sollen Neuwahlen stattfinden. Gleichzeitig wurde unter Moskauer Politikern Kritik am bisherigen Tschetschenisierungs-Kurs der Krisenregion laut. Die liberale Politikerin Irina Chakamada bemängelte, dass Putin in der Person Kadyrows nur auf eine Machtgruppe im Lande gesetzt hätte. Tschetschenien müsse jedoch parlamentarisch verwaltet werden. Im Kreml-treuen Lager wurde dagegen der Ruf nach einer unmittelbaren Verwaltung der Republik durch den russischen Präsidenten laut. Die Vizevorsitzende der Staatsduma Ljubow Slitzka forderte zudem die Ausrufung des Ausnahmezustands in und um Tschetschenien sowie die Wiedereinführung der Todesstrafe für Terrorismus.
(Lothar Deeg/rufo)
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