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Foto: Matwej Tkatschow |
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Samstag, 06.12.2003
Massenmord vor den WahlenMoskau/St. Petersburg. Unter den weißen Laken, mit denen die Toten abgedeckt sind, klingelt ein Mobiltelefon. Irgendjemand versucht seinen Freund, seine Tochter oder seine Eltern zu erreichen, die am Morgen mit dem Vorortzug aus Kislowodsk abgefahren waren. Auch hartgesottenen Journalisten wurde übel ... Der blutige Selbstmord-Terroranschlag von Jessentuki überschattet die am Sonntag anstehenden russischen Parlamentswahlen: Die Explosion in einem voll besetzten Vorortzug riss 41 Menschen in den Tod und verletzte etwa 180.
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Wegen der Duma-Wahlen waren in Russland seit Tagen sämtliche Polizei- und Sicherheitskräfte in erhöhter Alarmbereitschaft. Es wurde befürchtet, dass der tschetschenische Widerstand und ihm verbundene radikal-islamische Fanatiker mit Terroranschlägen dem Urnengang ihr Zeichen aufdrücken wollen. Als besonders gefährdet gelten Tschetschenien selbst, dessen unmittelbare Umgebung im Nordkaukasus sowie seit dem Geiseldrama in einem Musicaltheater im letzten Jahr und zweier Selbstmordanschläge im Sommer die Hauptstadt Moskau.
Am Freitag Morgen wurden die Befürchtungen wahr: Um 7.42 Uhr explodierte eine Bombe in einem Vorortzug, als dieser in den Bahnhof von Jessentuki im Gebiet Stawropol einfuhr. Der zweite Waggon des Zuges wurde auf halber Länge geradezu zerfetzt. Der Plastik-Sprengsatz mit einer Sprengkraft von 10 bis 30 Kilogramm TNT war mit Schrauben und Nägeln gespickt.
Die meisten Opfer sind junge Leute, die zur Universität fuhren. Auf den gleichen Zug war vor drei Monaten schon einmal ein Attentat verübt worden - und einige der jetzt Verletzten waren schon vor drei Monaten unter den Leidtragenden. Diesmal konnten aus dem zerfetzten Waggon aber oft nur noch blutige Überreste der Passagiere geborgen oder am Bahndamm gesammelt werden. Beine, Arme, Unterleibe, Oberleibe. Und dann fingen die Mobiltelefone an zu klingeln, die die Explosion überstanden hatten. Unter den Laken.
31 Menschen waren an Ort und Stelle getötet worden. Viele derer, die mehr tot als lebendig aus den Trümmern geholt wurden, starben später in den Krankenhäusern. Am Mittag waren es schon 36 Tote. Bis Samstag erhöhte sich die Zahl auf 41. Der Anschlag von Jessentuki ist einer der blutigsten Terrorakte in Russland. Er hätte noch schlimmer ausfallen können, wenn die Bombe nicht 400 Meter vor dem Bahnhofsgebäude des Kurorts explodiert wäre.
Am Ausgangsbahnhof Kislowodsk werden seit dem 3. September alle Züge mit Suchhunden genauestens auf Sprengstoff untersucht. Denn an diesem Tag hatte ein Bombenanschlag an derselben Strecke bereits vier Todesopfer und fast 100 Verletzte gefordert. Wie auch jetzt wieder waren die meisten Opfer Schüler und Studenten aus Kislowodsk, die mit dieser morgendlichen Elektritschka zum Unterrricht nach Pjatigorsk und Mineralnije Wody fahren An den zwei Haltestellen an der Strecke bis Jessentuki gibt es solche Kontrollen aber nicht mehr.
Angeblich, so berichten Augenzeugen, hatten zwei Frauen eine schwere Tasche in den Zug geschleppt und waren dann abgesprungen. Eine dritte Attentäterin und ein Mann, dessen Leiche später mit Handgranaten am Leib gefunden wurden, schafften den Absprung nicht. In der Nähe des Unglücksortes, berichtet später FSB-Chef Nikolai Patruschew im Kreml, sei ein Auto gefunden worden, von dem aus der Terroranschlag beobachtet worden sei. Nicht auszuschließen ist, dass der Sprengsatz von diesen Komplizen ferngezündet wurde.
Dass hinter dem Terrorakt die gleiche Gruppe steckt, die nur wenige Kilometer entfernt schon einmal einen Anschlag auf den gleichen Zug verübte, wird kaum bezweifelt. Doch wer genauer für das Blutbad verantwortlich ist, scheint den russischen Behörden auch drei Monate nach dem ersten Anschlag nicht klar zu sein. Justizminister Juri Tschaika nannte als eine Hauptversion der aktuellen Ermittlungen Handlungen tschetschenischer Terroristen, die vor den Wahlen die Bevölkerung demoralisieren wollen. Präsident Wladimir Putin bezeichnete das Attentat als erneuten Angriff des internationalen Terrorismus. Der Versuch, so die Situation im Lande kurz vor den Wahlen zu destabilisieren, werde allerdings nicht gelingen.
Eine niedrige Wahlbeteiligung am Sonntag zeichnete sich aber schon vor dem Attentat ab: Soziologen wie Wahlorganisatoren rechnen auch ohne jeden Angst-Faktor mit nur etwa 40 Prozent. Vor allem in St. Peterburg wird befürchtet, dass wegen der erst vor einem Monat gelaufenen Gouverneurswahlen die Wahlmüdigkeit nun besonders groß ist. Damals gingen nur 28 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne. Sollten am Sonntag in einzelnen Wahlkreisen weniger als 25 Prozent abstimmen, bleibt das dort jeweils zu vergebende Direktmandat bis zu Nachwahlen unbesetzt.
Der Wahlkampf verlief diesmal für russische Verhältnisse eher ruhig und skandalfrei, stand aber unter dem Zeichen der absoluten Vorherrschaft der von Putin und den staatlichen Massenmedien favorisierten Beamten-Partei Einiges Russland. Es gilt als sicher, dass sie und weitere Kreml-treue Kräfte in der nächsten Duma eine klare Mehrheit erringen werden.
Erst im Wahlkampf-Endspurt kam es zu einer giftigen Auseinandersetzung zwischen der liberalen Union der rechten Kräfte (SPS) und dem neuen links-patriotisch orientierten Wahlblock Heimat: Die SPS-Führer Boris Nemzow und Anatoli Tschubais warfen dem angeblich mit Geld des Aluminium-Oligarchen Oleg Deripaska geschaffenen Bündnis aus Nationalisten und kommunistischen Abweichlern vor, in der Duma dem National-Sozialismus den Boden bereiten zu wollen.
Allerdings war es nicht nur Heimat, die in dieser Wahlkampagne offener als zuvor nationalistische Ressentiments pflegten: Wladimir Schirinowski ging mit dem plumpen Slogan Für die Armen. Für die Russen auf Stimmenfang. Noch vor fünf Jahren, so die Zeitung Kommersant in einem Wahlkampf-Resumee, galt es als politisch korrekt, die multinationale Bevölkerung als Russländer anzusprechen. Terrorakte wie jetzt in Jessentuki und auch vorschnelle Verurteilungen einzelner Völker im Lande können eigentlich nur dazu führen, dass am Sonntag noch mehr Menschen beim Abstimmen nicht ihre Vernunft, sondern Wut und Hass sprechen lassen.
(gim+ld/.rufo)
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