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Jewgeni Ass war bis vor kurzem Vize-Präsident des Moskauer Architektenverbandes (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Jewgeni Ass war bis vor kurzem Vize-Präsident des Moskauer Architektenverbandes (Foto: Voßwinkel/.rufo)

Moskau: Geisel zweier Systeme

Jewgeni Ass, Moskau. In den letzten hundert Jahren hat Moskau fünf Variationen wahr gewordener Zukunft erlebt. Die erste Zukunft begann kurz vor dem Ersten Weltkrieg, die vorerst letzte nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Die erste Zukunft war eine kapitalistisch geprägte, die vielleicht die Kraft gehabt hätte, Moskau in die Reihe der führenden europäischen Metropolen aufschließen zu lassen.

An die Stelle dieser Zukunft trat eine avantgardistische, revolutionäre Zukunft, die Ideologie, Ästhetik und Technologie vereinen wollte. Wenn wir aus diesem Trippel die Ideologie entfernen, bleibt jenes Modell übrig, das bis heute in der ganzen Welt aktuell ist - mit Ausnahme Russlands.

Dieser revolutionären Zukunft folgte eine totalitäre stalinistische, festgeschrieben im Generalplan aus dem Jahr 1935. Aus dieser Zeit stammt ein umfangreiches architektonisches Erbe: die sieben Hochhäuser im Zentrum, das Messe- und Ausstellungsgelände der WDNCh, die Pläne für den Sowjetpalast.

Die vierte, modernistische Zukunft aus Chruschtschows »Tauwetterzeiten« brachte uns Moskauern den Neuen Arbat, die Trabantenstadt Tscherjomuschki, den Kongresspalast im Kreml, das Gebäude des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und andere Bauten. Insgesamt war es ein unzulänglicher Versuch, zu den Idealen der Avantgarde zurückzukehren. Es fehlte am früheren Enthusiasmus und an frischen Ideen. Jede Zukunft lehnte selbstverständlich die ihr vorausgegangene Zukunft ab.

Kapitalistischer Realismus


Dann kam die fünfte Zukunft, die so niemand geahnt hatte. Moskau wurde über Nacht zu einer kapitalistischen Stadt, manch einer behauptet sogar, dass Moskau zur bürgerlichsten Stadt der Welt geworden ist. Dabei fehlen im neuen Moskau Bürgertum und bürgerliche Traditionen, es fehlen eine intellektuelle Opposition und Erfahrung mit einer demokratischen Selbstverwaltung.

Architektur für den Augenblick, aber nicht für die Ewigkeit (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Architektur für den Augenblick, aber nicht für die Ewigkeit (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Es gibt keine gewachsene soziale Infrastruktur, die das Funktionieren der Stadt nach den Gesetzen des Marktes und den Bedingungen privater Eigentumsverhältnisse gewährleisten könnte. Doch die Stadt zeigt trotzdem mit einer kindlichen Begeisterung ihre Zugehörigkeit zur reichen Konsumwelt, feiert sich mit Shopping-Malls und Disneyland, mit Kitsch und Glamour wie in Las Vegas.

Der Wirtschaftsneoliberalismus hat in Russland ausgesprochen zynische Formen angenommen, wie es letztlich mit fast allen westlichen Ideen in Russland passierte. Durch Moskau fließen 80 Prozent aller Kapitalströme in Russland (auf die eine oder andere Weise vielleicht sogar 100 Prozent). Hier zeigt sich das zynische Antlitz des Kapitalismus am deutlichsten. Im Neonlicht wird schnell vergessen, dass Moskau eigentlich die Hauptstadt eines armen und außerordentlich korrupten Staates ist, in dem sich alles auf das Zentrum ausrichtet.

Neben den Golfplätzen herrscht bittere Armut


Auch direkt im Zentrum Moskaus gibt es bittere Armut. (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Auch direkt im Zentrum Moskaus gibt es bittere Armut. (Foto: Voßwinkel/.rufo)
100 Kilometer von den Moskauer Golfplätzen entfernt herrschen bittere Armut, soziale Zerrüttung und Elend. Allein diese Tatsache unterscheidet Moskau von allen anderen europäischen Hauptstädten.

Das kommerzialisierte Moskau grenzt die Armen und Schwachen aus. Einst belebte und demokratische Passagen wie die Stoleschnikow-Galerie oder das Kaufhaus GUM beherbergen heute elitäre Luxusläden der großen internationalen Marken und sind selbst zur Haupteinkaufszeit fast leer.

Sie wird aber nicht zur Kenntnis genommen (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Sie wird aber nicht zur Kenntnis genommen (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Moskau präsentiert sich als eine Stadt für Reiche und Erfolgreiche, ganz im Sinne einer »Ideologie der Exklusivität«. Der Anspruch auf Absolutheit, Ausschließlichkeit, war für Moskau immer charakteristisch, angefangen mit dem Ausspruch »Moskau ist das dritte Rom« bis zur Erklärung Moskaus, während der sowjetischen Epoche, Welthauptstadt zu sein. Die Erde dreht sich nach wie vor um den Kreml. Aus dem politischen Mythos vom Kollektiven ist nun der Mythos vom Konsum geworden, der Moskaus Exklusivität sichern soll.

Exklusive architektonische Ethik und Ästhetik


Der »Ideologie der Exklusivität« entspricht eine besondere architektonische Ethik und Ästhetik. Sie ist hedonistisch, narzisstisch, enorm selbstzufrieden, aber, was eigentlich ein Widerspruch ist - des Optimismus beraubt. Die Grundlage dieser Ästhetik bilden drei Komponenten: ein historischer Minderwertigkeitskomplex, eine perverse Verbundenheit mit stalinistischem Pomp und der Fetisch der Postmoderne, die seit Ende der 70er Jahre in Russland auf sehr fruchtbaren Boden fällt. Seitdem ist sie prachtvoll aufgeblüht, trägt aber bis heute nur ausgesprochen geschmacklose Früchte.

Im Westen war die Postmoderne sehr kurzlebig und hinterließ ebenfalls nur wenige erwähnenswerte Spuren. Im Russland der 70er Jahre hingegen wurde der postmoderne Eklektizismus zur Mode und zu einem Mittel des Protests gegen die Armseligkeit der sowjetischen Architektur. Heute findet er eine reale soziale Basis in der blitzschnell konservativ gewendeten relativ kleinen Oberschicht sowie bei neuen staatlichen Machthabern mit ihrem kümmerlichen Raum- und Formgefühl.

Merkwürdig daran ist, dass die Architektur in Russland das einzige kulturelle Phänomen ist, das den aktuellen internationalen Modetrends nicht entspricht. Nachahmung von Produkten und Trends westlicher Herkunft kennzeichnet durchgängig das Konsumverhalten in Russland - das gilt jedoch nicht für die Architektur. Amüsant ist dabei, dass trotz der ästhetischen und ideologischen Nicht-Entsprechung die Bauaktivitäten in Moskau hier als europäisch bezeichnet werden.

Zwei parallel funktionierende Systeme


Städtebau- und Architekturpolitik in Moskau wurden zu Geiseln zweier parallel funktionierender Systeme: Da ist einerseits das bürokratische System sowjetischen Typs, andererseits das neue System von Markt und Kommerz. Die friedliche Koexistenz beider Systeme wird durch Korruption gewährleistet.

Selbstverständlich darf man nicht verschweigen, dass auch auf die Architektur verdeckte oder offensichtliche Zensur ausgeübt wird. Als deren Protagonisten gelten dabei die Stadtregierung und die ihr unterstellte Verwaltung. Eine Folge davon ist die Selbstzensur der Architekten. Man darf die Architekten aber nicht als Opfer dieser Zensur sehen. Es gibt genug Bauten, die schwerlich mit dem Geschmack der Stadtregierung in Einklang zu bringen sind.

Luschkow hat seinen eigenen Geschmack (Foto: Tatjana Voßwinkel/.rufo)
Luschkow hat seinen eigenen Geschmack (Foto: Tatjana Voßwinkel/.rufo)
Eine andere Sache ist, dass die ästhetischen Präferenzen des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow dem Massengeschmack durchaus nicht widersprechen. Die Mehrheit der Auftraggeber und Verbraucher teilt seine Vorstellungen in Sachen Architektur. Ein angeblicher Überdruss an zu vielen Türmchen und Erkern ist eher von der Presse oder einigen Experten evoziert als eine Widerspiegelung der tatsächlichen Sichtweise des Publikums. Das zeigt sich deutlich am Beispiel der vor den Toren der Stadt gelegenen Villen wohlhabender Moskauer.

Viele sind treue Anhänger des Bürgermeisters


Auch viele Architekten (ich will es nicht von der Mehrheit behaupten) sind treue Anhänger der ästhetischen Vorlieben des Bürgermeisters und applizieren eilfertig allerlei »Schönheiten« an ihre Gebäude, die meistens mit dem Argument der Anpassung an den Kontext bemäntelt werden. Die Berufung auf Geschichte und Kontext (im Übrigen nicht immer uneigennützig) ist längst zur puren Heuchelei verkommen.

Ein anderes Thema sind die spezifischen russischen Vorstellungen von Schönheit. Allem Anschein nach beginnt Schönheit für russische Architekten jenseits des gesunden Menschenverstands. Es wäre aber ungerecht, nicht auch positive Tendenzen, das Aufkommen neuer konkurrenzfähiger Ideen anzuerkennen. Aber dennoch ist die Luft für professionelle Architektur in Moskau immer noch sehr dünn.

Architektur gibt es nicht


Dieser blaue Wohnkomplex befindet sich in der Nähe des Luxus-Baus Alye Parusy (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Dieser blaue Wohnkomplex befindet sich in der Nähe des Luxus-Baus Alye Parusy (Foto: Voßwinkel/.rufo)
Alle Merkmale von Architektur sind scheinbar präsent, aber Architektur selbst gibt es nicht. Dabei verstehe ich Architektur als einen kulturellen Diskurs, der den Existenzproblemen von Mensch und Gesellschaft in einer modernen Welt gewidmet ist. Russische Architekten haben sich allen Erwartungen und Traditionen zum Trotz schnell als geschäftstüchtige Pragmatiker erwiesen. Ihnen fehlt es fast gänzlich an konzeptioneller Phantasie und erst recht an Idealismus.

Dabei hat es in der Geschichte der russischen Architektur des 20. Jahrhunderts die Konstruktivisten der 20er Jahre und auch die »Papierarchitekten« der 80er Jahre gegeben. In den vergangenen fünfzehn Jahren aber ist in Russland kein einziges ernsthaftes konzeptionelles oder experimentelles Projekt entstanden, das auf internationalen Niveau mithalten kann.

Ich habe keine Illusionen: Heute steht Moskau abseits der internationalen Architekturdebatte. Das betrifft leider auch die architektonische Ausbildung an unseren Hochschulen, die keineswegs als Katalysator intellektueller Aktivität gelten kann. Inzwischen bildet sich ein völlig neuer Architekturdiskurs heraus. Unser Blick auf die Welt, die Stadt und die Architektur wird immer kommerzieller und touristischer, damit auch die Erwartungen und Forderungen an die Architektur.

Architektur verkommt zum Event


Sie verkommt zum Event, von dem eine Sensation erwartet wird, keine Langlebigkeit. Vielleicht ist das Internet bereits das perfekte Modell einer modernen Metropole. Dieses Modell kennt keinen räumlichen, sondern nur noch einen vorübergehenden Zusammenhalt von Ereignissen. Traditionelle Werte von Raum und Form werden in der Wahrnehmung der Massen zu Werbebannern auf Websites.

Das entbindet Architekten zwar nicht von ihren professionellen Verpflichtungen, ist aber ein Anlass, sich über ein anderes Koordinatensystem Gedanken zu machen. Warum sollten wir damit nicht in Moskau beginnen?

Jewgeni Ass, geb. 1946 in Moskau. Ab 1970 Architekt im Stadtplanungsbüro "Mosprojekt I". 1981 - 1986 Leiter des staatlichen Instituts für Stadtforschung und Städtebau in Moskau. Seit 1997 freier Architekt in seinem Büro "ask architects" in Moskau. Professor am MARCHI. Jewgeni Ass bereitet derzeit zwei Ausstellungen zum "Konstruktivismus" und der "Moderne" in Moskau für Frühjahr 2006 mit vor. Zusammen mit dem Architektur-Consulter-Projektentwickler BAUMAN bereitet er im Rahmen der 2006 in Moskau geplanten Ausstellung "Organische Architektur" eine internationale Architekturdiskussion und einen Wettbewerb für junge Architekten mit vor.



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